Sunday, January 15, 2012

10 Monate Danach

Mitte März vergangenen Jahres hat das syrische Volk etwas begonnen, was in den Augen der meisten von uns schier unmöglich erschien: aufzubegehren gegen das diktatorische Regime und seine Repressionen im allgemeinen und gegen Bashar al-Assad im speziellen. 

Wir als Aussenstehende, die wir noch unter dem Eindruck der Ereignisse rund um den Arabischen Frühling standen, konnten damals nicht wirklich die Erfolgsaussichten abschätzen aufgrund eines generellen Mangels an Informationen über das Land, seine Bevölkerung und vor allem die mörderische Baath-Herrschaft. Hafez al-Assad hatte einen Titanvorhang rund um das multireligiöse und polyethnische Land gezogen, der die brutale Niederschlagung des Aufstands von Hama vor rund dreissig Jahren derart gut verdeckte, dass es zu keiner weltweiten Welle der Empörung kam. Bashar, der ursprünglich nicht erste Wahl für den Präsidentensitz war, erbte ein System der vollständigen Kontrolle, das er lediglich zu verwalten hatte, indem er den gebildeten Hoffnungsträger mimte und den gigantischen Überwachungsapparat aufrecht erhielt.

Doch die Zeiten haben sich drastisch verändert. Mithilfe der modernen digitalen Technologien sowie den sozialen Netzwerken sind die Syrer mittlerweile in der Lage, ihre Revolution aufzuzeichnen und zu speichern, täglich werden dutzende Handyvideos hochgeladen, um die Verbrechen gegen die Menschheit, deren Zeugen sie werden, zu dokumentieren. Indem sie die Mauer der Angst zu Fall gebracht haben, wie viele Syrer mir den Moment beschrieben, als ihr innerer Schalter auf Widerstand kippte, wurden sie sich bewusst, dass die Zeit, den Regimealptraum zu beenden gekommen war, jetzt oder nie. 

Während die Welt voller Spannung den Befreiungskampf Libyens von Gaddafi und weitere Brennpunkte im Mittleren Osten und Nordafrika verfolgte, bemühten sich die Syrer, die nötige Aufmerksamkeit für ihre Befreiungsbewegung zu erringen. Proteste ausserhalb Syriens, vorwiegend von geflohenen Dissidenten und Emigranten organisiert, nahmen weltweit deutlich zu als ein Zeichen der Solidarität mit ihren Landsleuten zuhause, die tagtäglich ihr Leben aufs Spiel setzten im Kampf für Freiheit, Gerechtigkeit und Würde.

Das tägliche Morden verdreifachte sich beinahe, als der Fastenmonat Ramadan begann und die bis dahin hauptsächlich Freitags abgehaltenen Proteste jeden Tag abgehalten wurden. Unter den Opfern der Sicherheitskräfte waren immer mehr Frauen und Kinder. Willkürliches Gewehrfeuer und auf den Dächern positionierte Scharfschützen gerieten zur tragischen Normalität, nicht nur in Homs, einer Hochburg des Widerstands. Und die Berichte und Aufnahmen erreichten einen verstörenden Level an Grausamkeit: die leblosen Körper verhafteter und zu Tode gefolterter Aktivisten wurden den Familien übergeben, nachdem sämtliche Organe entfernt wurden. Panzer rollten über Demonstranten. Viele der hochgeladenen Videos sind an der Grenze des Erträglichen und einige der Bilder haben sich unauslöschlich in die Erinnerung der Betrachter gebrannt. Doch zu den mit Abstand schandvollsten Massnahmen zur Niederschlagung des Aufstands gehörte das Eröffnen des Gewehrfeuers auf Trauernde während den Begräbnissen der Opfer. Es brachte deutlich zum Ausdruck, wie wenig Wert die Sicherheitskräfte auf das Leben an sich und die Würde legten, wie unwürdig sie die Zivilbevölkerung behandelten, indem sie sie in dem Moment angriffen, der den Respekt vor den Toten und deren Familien erfordert. ,Nur in Syrien,‘ stand einmal in einem Tweet zu lesen, ,geht man auf eine Beerdigung von jemand, der auf eine Beerdigung ging, der ..‘

In der Zwischenzeit hat die syrische Freiheitsbewegung die weltweite Aufmerksamkeit bereits so weit erregt, dass eine Handvoll Journalisten bereits auf einem riskanten Undercovertrip auf sich genommen haben, um über die Realität in den Strassen und Städten zu berichten. Und diese Realität ist bitter und brutal: Häuser, die von Granateneinschlägen durchsiebt sind; Einwohner, die in umliegende Wälder und Berge fliehen mussten; Strassenkreuzungen, die für jeden Zivilisten zur Todesfalle mutierten; ganze Stadtteile, die von der Grundnahrungsversorgung abgeschnitten wurden; medizinische Versorgung für verwundete Demonstranten, die nur an geheimen Orten in Privathäusern zu gewährleisten war, da die Krankenhäuser von den Sicherheitskräften überwacht werden .. um sämtliche Verbrechen aufzulisten, für die das Regime verantwortlich ist, dürfte es noch einmal zehn Monate benötigen.

Zu allem Überfluss wurde Syrien jetzt erst recht zum Spielball der internationalen Politik. Anstelle zusammen zu arbeiten, wie es der Grundsatz der Vereinten Nationen ausdrücklich vorsieht, lamentieren die Weltmächte uneins über ihre jeweiligen Standpunkte. Europa und die Vereinigten Staaten verurteilen ihrerseits die Regimegewalt auf das Schärfste, indem sie starke verbale Signale senden und wirtschaftliche Sanktionen, das Einfrieren von Konten sowie Einreiseverbote für die Offiziellen verhängen. Die russische Staatsführung steht weiterhin zu Assad und fordert einen Dialog zwischen dem Regime und der Opposition. Und die Arabische Liga entpuppt sich als Meister des Spiels auf Zeit und toppt dabei selbst noch das Zeitlupenblutbad des Regimes.

Werfen wir einen aktuellen Blick auf die Beteiligten und ihre Positionen:

Das Regime. Mittlerweile nicht mehr in der Lage, sogenannte ,Millionenmärsche‘ zur Huldigung ihres fahlen Führers zu inszenieren. Die tatsächliche Anzahl der Menhebbakye (wie die durchwegs loyalen Regimebefürworter genannt werden) stellt sich letztlich doch nicht als so gross heraus, wie es uns die staatlich kontrollierten Medien wie SANA und Adounia TV weismachen wollen. Es ist mehr ein harter Kern Fanatiker, der sich unvermindert berechtigt fühlt, das Land und die Bevölkerung nach Gutdünken zu beherrschen. Ihre Hauptargumente - bewaffnete Banden, Sektierertum und Bürgerkrieg - klingen inzwischen mehr trotzig und verzweifelt denn siegessicher.

Seine Verbündeten. Ausser auf Putin kann sich Assad vor allem auf die Hisbollah und das benachbarte Regime unter Achmedineschad berufen. Zwei getreue Vasallen, die bereitwillig mit Waffen, Personal oder Geld aushelfen. Mit dem Ende des syrischen Regimes würde Nasrallah seine stärkste Rückendeckung verlieren. Und der iranische Herrscher ist seinerseits um sein politisches Überleben am kämpfen, hat er doch mit Khamenei einen starken Widersacher im eigenen Land vor Augen.

Die Armee. Ursprünglich ausgesandt, um die Freiheitsbewegung niederzuschlagen, müssen diverse Divisionen nun zahlreiche Deserteure aus den eigenen Reihen verzeichnen. Soldaten, die sich geweigert haben, auf unbewaffnete Demonstranten zu schiessen, haben dabei in erster Linie ihr eigenes Leben riskiert, von den hinten stehenden regimeloyalen Kameraden selbst niedergeschossen zu werden. Ein äusserst schmutziger Trick, um den Kadavergehorsam aufrecht zu erhalten, der sich allerdings als Knieschuss entpuppt, da immer mehr Soldaten ihr Gewissen und den ursprünglichen militärischen Eid wiederentdeckt haben: die Bevölkerung zu beschützen und nicht abzuschlachten.

Der Sicherheitsapparat. Der dickste Brocken. Die Anzahl der verschiedenen Geheimdienste liegt geschätzt zwischen dreizehn und siebzehn. Jede Ebene des gesellschaftlichen, des politischen wie auch des militärischen Lebens ist von den Agenten des Mukhabarat infiltriert. Im Vergleich dazu erscheint die ehemalige ostdeutsche Staatssicherheit gemässigt. Zusammen mit den Shabiha (den ,Geistern‘), einer Art loyaler Regime-Miliz, bilden sie das Rückgrat der systematischen Unterdrückung. Die verschiedenen Sektoren diese Geheimdienstapparats aufzudecken wird eine grosse Herausforderung für die Staatsvertreter der Nach-Assad-Ära werden.

Die schweigende Gesellschaftsschicht. Nach wie vor unschlüssig, sich zur Freiheitsbewegung zu bekennen, sei es wegen Zweifel und Bedenken, aus Angst an Privilegien einzubüssen oder schlicht und ergreifend durch die seitens der Regimepropaganda verursachte Gehirnwäsche, werden sie das Zünglein an der Waage sein, das die Entscheidung Richtung Veränderung ausmachen wird. Es wird permanente Überzeugungsarbeit vonnöten sein, um Glauben und Vertrauen aufzubauen, und das Regime wird bis zum Schluss versuchen diese zu erschüttern, indem es Chaos und Destabilisierung im Falle seines Endes prophezeiht.

Der politische und der militärische Flügel der Opposition. Der Syrische Nationalrat ist auf der Suche nach internationaler Anerkennung als Repräsentant des syrischen Volkes. Nicht die leichteste Aufgabe im Haifischbecken der Diplomatie für Burhan Ghalioun und die anderen Mitglieder des SNC, die in den Augen mancher Routiniers wie politische Anfänger wirken. Foch der Mangel an Erfahrung ist eine Hürde, die der SNC bereitwillig nehmen wird, vor allem durch das Erkennen von und Lernen aus eigenen Fehlern. Wir dürfen nicht ausser Acht lassen, dass eine ernstzunehmende politische Opposition in Assads Syrien de facto vorher nicht existierte. Au der anderen Seite findet sich derzeit die Freie Syrische Armee zusammen und bereitet sich auf den Moment vor, in dem sie stark genug ist, die Armee des Regimes anzugreifen. Wenn die Quote der Überläufer in ähnlich hoher Zahl wie zuletzt ansteigt, wird sie schon bald diesbezüglich handlungsfähig sein können. Aktuell beschützen und verteidigen die Soldaten der FSA die von den Sicherheitskräften heimgesuchten Gebiete, um ein noch grösseres Blutbad zu verhindern, vor allem in den Stadtvierteln von Homs und seit neuestem in und um Zabadani nahe der libanesischen Grenze.

Und schliesslich die Demonstranten selbst. Gejagt, zusammengeschlagen, verschleppt, gefoltert, freigelassen, erneut inhaftiert verkörpern sie selbst nach zehn Monaten ungebrochenen Willen. Ein erwähnenswertes Beispiel dafür sind die Homsis. Obwohl sie die meisten Opfer durch Regimegewalt bisher zu verzeichnen haben, lassen sie es nicht an ausserordentlichem Mut und einer immensen Kreativität auf ihren Protesten mangeln und stellen eine dicken Stachel dar, der tief im Fleisch des Regimes steckt. Die Gesänge der traditionellen Weisen der Homsis sind mittlerweile weit über die Grenzen hinaus bekannt, für jede Demonstration werden neue Liedtexte geschrieben und sie werden unter anderem von einer starken Frontfrau begleitet, der alawitischen Schauspielerin Fadwa Suleiman, die gemeinsam mit ihren sunnitischen Landsleuten gegen den Regimemythos des Sektierertums kämpft. Einheit ist ein zentraler Schlüsselbegriff im Wörterbuch der syrischen Freiheitsbewegung. Immer wieder versucht das Regime, einen Keil zwischen sie zu treiben, sie zu spalten, doch trotz aller bisher erbrachten Opfer beharren die Demonstranten weiterhin eisern auf ihren Forderungen.

Es ist nicht leicht, vorherzusagen, wann exakt das Regime zusammenbrechen wird. Noch sind sich die Mächtigen der Welt nicht darüber einig, gemeinsam den Diktator in Damaskus auf effektive Art und Weise zu isolieren. Die bisher verhängten Sanktionen brauchen Zeit, bis sie die ersten wirklich zählbaren Erfolge aufweisen können und laufen währenddessen permanent Gefahr, unterlaufen zu werden. Noch ist eine Delegation in orangen Westen unter der Leitung eines sehr dubiosen Sudanesen auf Besichtigungstour durch das Land unterwegs, selbst unter starker Beobachtung durch das Regime. Noch zählen wir leider Tag für Tag die Opfer der ausufernden Gewalt der Sicherheitskräfte. Doch dass das Regime zusammenbrechen wird, ist nicht länger im Bereich der Spekulation. Es ist mittlerweile eine Tatsache anbetrachts der bemerkenswerten Ausdauer der Syrier, sich aufzurichten und solange Widerstand zu leisten, bis sie ihre verdiente Freiheit erreicht haben.

Und dafür verdienen sie unsere Hochachtung.




No comments:

Post a Comment