Monday, February 4, 2013

Francesca Borri: Aleppo (2)

Der folgende Text ist eine Übersetzung aus dem Englischen. Die Autorin Francesca Borri (@francescaborri) beschreibt ihre Eindrücke, die sie in Syriens nördlicher Metropole gesammelt und mir zur Verwendung zur Verfügung gestellt hat. Ihr gilt mein Dank.

Grateful credits to Francesca for providing me her English text to translate and publish it in German. Grazie tanto.
 
Eine Hand wirft mich zu Boden und die Kugel schrammt drei Zentimeter oberhalb die Wand entlang. Ich habe mich gefragt, wo sie alle geblieben sind, die Einwohner von Aleppo. Es gibt mehr als zwei Millionen von ihnen, und Schätzungen zufolge sind zwei Drittel immer noch hier, in den Strassen voller Trümmer und Heckenschützen. Die Häuser jedoch, ausgebrannt vom Artilleriefeuer, sind leer, eine Lampe schwingt im Wind in einem der zerschossenen Gebäude, ein Vorhang weht, Überreste einer vergangenen Normalität. Selbst eine auf einem Stuhl zusammengerollte tote Katze sieht aus, als ob sie schläft.
 
Ich finde mich selbst in einem dunklen Bau wieder, als ich aufstehe, vor mir eine Treppenflucht. Hier sind sie möglicherweise, die Einwohner von Aleppo. Dutzende Schatten huschen neugierig herum; ich bin die erste Menschenseele, auf die sie stossen, seit zwei Monaten. Ein Streichholz spendet uns Licht. Zwanzig Kinder blicken mich schweigend an, dicht zusammengedrängt, an der Wand entlang gereiht. Erstarrt. Sie sehen mich angsterfüllt an, dann begreife ich, es ist der Helm, sie denken, ich gehöre zu Assads Soldaten. Sie sind aufgereiht wie Gefangene, die auf ihre Exekution warten. Das Haus von Umm Bashar, 28 Jahre alt, wurde Anfang August getroffen. Eigentlich sollte sie Umm Mahmoud genannt werden; Bashar, ihr Erstgeborener, blieb unter den Trümmern verschüttet. Siebenunddreissig sind sie insgesamt, ausser den Kindern zwischen ein und neun Jahren leben hier fünf Männer und zwölf Frauen. Sie besitzen lediglich die Kleidung, die sie trugen, als sie fliehen mussten. Sie können es sich nicht leisten, ein anderes Haus zu mieten, auch haben sie nicht die 50 US$, um einen Fahrer anzuheuern, der sie an die türkische Grenze bringt. Deshalb sind sie hier gestrandet, ein Campingkocher in einer Ecke und kein fliessendes Wasser, kein Strom oder Telefon. Ab und an begibt sich Omar, 29 Jahre alt, Taxifahrer, nach draussen auf die Suche nach Essen. Ein Heckenschütze wartet bereits jedes Mal auf ihn auf der anderen Seite der Strasse. So wurde sein Bruder Shadi, 27 Jahre alt, Zimmermann, getötet. „Und ich werde niemals vergessen, wie ich die Lebensmittel durchwühlt habe, die Orangen, den Zucker, alles, was er gekauft hatte. Das Blut von den Kartoffeln abgewaschen und sie danach trotzdem gekocht.“
 
Ob drinnen oder draussen, das macht mittlerweile keinen Unterschied mehr aus in Aleppo. Die ganze Stadt wird von Luftschlägen und Granaten zum Erzittern gebracht, alle paar Minuten ein Treffer. Und tausende Menschen suchen im Untergrund Schutz. „Brot wird auf dem Friedhof verteilt,“ sagt Omar. „Nur hier, unter den Toten, kannst du einigermassen sicher sein, nicht zum Angriffsziel zu werden.“ Doch in Wirklichkeit gibt es keinen adäquaten Schutz; seit Assad der Luftwaffe grünes Licht gegeben hat, gerät das Überleben zu einer Zufallsangelegenheit. „Grössere Gebäude wie die hier in den Vorstädten schützen einen vor Granatenfeuer. Man hält sich im ersten oder zweiten Stock auf; im Falle, die Etagen darüber werden beschossen. Doch wenn ein Kampfjet einen Treffer landet, wird man unter Tonnen von Trümmern begraben. Auf der anderen Seite wird man in einem Flachbau“ - die typischen syrischen Häuser, wunderschön, mit einem Innenhof in der Mitte, all den Zitrusfrüchten, dem rankenden Jasmin - „von weniger Schutt nach einem Luftschlag begraben, um freigeschaufelt zu werden. Allerdings ist man eher Granatenfeuer ausgesetzt.“
 
In Wirklichkeit ist die einzig sichere Wahl, Aleppo zu verlassen.
 
Wir müssen erneut aufbrechen. Einen Block entfernt von uns feuert ein Maschinengewehr zur Verteidigung gegen die Luftwaffe drei Schüsse ab. Und es dauert nur einen Moment, die Zeit, sich in die Augen zu blicken, als Gejagte, bis ein Assad-Jet über unsere Köpfe heult. Er verschwindet, er kommt wieder zurück, er gleitet, gewinnt an Höhe; zwanzig Kinder schreien aus purer Verzweiflung. Dies sind die angespanntesten Minuten. Da dein Verstand hellwach, auf der Höhe ist; und während der Pilot sein Ziel auswählt, während du selber bereits jenes Ziel geworden bist, kannst du dich lediglich selbst umklammern, die Schultern an einer feuchten Wand angelehnt, und den Boden anstarren, in Gedanken mit allem, was du in deinem Leben nicht ausgesprochen hast, den Zeiten, in denen du nicht fähig warst zu lieben, den Zeiten, in denen du nicht fähig warst, etwas zu riskieren - während rund um dich herum die Bomben unaufhörlich detonieren.
 
Aisha, neun Jahre alt, überreicht mir eine Visitenkarte. Sie stammt aus dem Trauungssaal oberhalb von uns, der Halle, von welcher aus man zu den Treppen gelangt. Tariq al-Bab, sagt sie, wir sind in Tariq al-Bab. „Schreib, dass sie uns abholen kommen sollen. Schreib keine unnötigen Sachen auf.“ Dann bemerkt sie mein Mobiltelefon. Sie fragt: „Hast du die Nummer der UN?“
 
Und obwohl sie von Assad sturmreif geschossen werden, traut jener Untergrund Aleppos der Freien Syrischen Armee nicht über den Weg. Sie haben einen Krieg gewagt, für den sie nicht kampfbereit genug waren, sagt Afraa, 17 Jahre alt. Vier Explosionen begleiten ihre Bemerkung. „Sie stehen da mit Flip-Flops und zehn Kugeln. Und währenddessen bieten sie Assad den Anlass, uns alle zu treffen. Wenn man sich nach den Rebellen erkundigt, ein und dieselbe Antwort unter den Bewohnern von Aleppo; wir verstehen ihre Strategie nicht, wer sie wirklich sind. Und natürlich, welche Art Syrien sie denn nun wollen. Afraa nahm an Dutzenden Demonstrationen teil. „Doch jetzt ist alles vorbei. Wir haben keinen Platz mehr, wir haben keine Stimme.“ Fünf Explosionen während ihrer Eingangsworte. „Sie besetzen unsere Häuser, sie feuern aus unseren Fenstern heraus. Und es interessiert sie nicht, dass wir nicht wissen, wo wir hin sollen. In zwei Monaten ist hier keiner erschienen.“ Weder eine NGO, weder das Rote Kreuz, weder Ärzte Ohne Grenzen, keiner. Eine weitere Granate schlägt ein, Glas zerbricht. „Darüber hinaus sind sie zutiefst religiös und konservativ. Und sie sind allesamt Sunnis.“ Miriam ist Afraa‘s beste Freundin, auch sie trägt eine schwarze Burqa. Doch sie ist Christin. „Meine kugelsicheres Outfit.“
 
Ich blicke immer wieder auf meine Uhr. Ich bin die Einzige, es ist eine Angewohnheit aus meinem alten Leben. Weil der einzige Unterschied zwischen Tag und Nacht derjenige ist, dass Kalashnikovs ohne Licht nutzlos sind. Während der Nacht gibt es nichts ausser dem Metronom der Einschläge, die Rebellen antworten nicht darauf. Während der Nacht wird der Krieg in Aleppo zum Mörder. Es gibt keine Kämpfe, nur den Tod. Willkürlich. Bombe für Bombe schlägt ein, hier, rundherum. Nichts anderes.

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