Wednesday, February 29, 2012

Ein Jahr Ruf Nach Freiheit - Eine Sehr Persönliche Sicht

15 Tage bis zum 15.März, Zeit, ein Resumee der sich jährenden Revolution in Syrien zu verfassen, die schier unfassbare Zahl der Ereignisse zwischen Idleb im Norden und Daraa im Süden, Lattakia im Westen und Deir Ezzor im Osten dürfte in ausführlicher Variante locker ein komplettes Buch füllen.

Wie hatte alles damals angefangen? Mit ein paar Jugendlichen, die, inspiriert vom Arabischen Frühling in den Nachbarländern, ein paar Graffitis an die Häuserwände von Daraa sprühten und die dafür verhaftet wurden. Gut, in der westlichen, sogenannten zivilisierten Welt mag sie durchaus ein ähnliches Schicksal erwartet haben im Falle ihrer Ergreifung durch die Behörden, doch wir reden hier von dem Land, in dem die Dynastie der Assads über fast fünf Jahrzehnte ein im wahrsten Sinne des Wortes todsicheres System aus Überwachung und Präventivarrest bis hin zu menschenunwürdiger Folter mit oftmals lethalen Folgen errichtet hat.

Es waren die Familienangehörigen der verhafteten Kids, die aus Protest auf die Strasse gingen und ihrerseits in Haft gerieten. Schon bald sprang der Funke auf andere Regionen über, zwar noch nicht in dem Ausmass, wie wir es aus den Bildern der Massenproteste im Frühsommer erleben durften, doch deutlich genug, um das Regime, das bis dahin die Versuche der inneren wie äusseren Befreiung seines eigenen Volkes eher milde belächelte, in Unruhe zu versetzen. Vor allem, da mit dem 13-jährigen Hamza al-Katheeb ein erstes Märtyrersymbol entstand, das die Menschen in Bewegung versetzen sollte.

Zur Erinnerung: es war Mohammed Bouazizi, der sich im Dezember 2010 in Tunesien aus Protest gegen seine erzwungene Erwerbslosigkeit in Brand gesetzt und somit die Revolte gegen den damaligen Präsidenten Ben Ali richtig in Gang gebracht hatte. Es war der ägyptische Blogger Khaled Said, dessen gewaltsamer Tod nach seiner Verhaftung wie ein Stachel im Fleisch der Bevölkerung saß, der ein dreiviertel Jahr später zum Ausdruck des Aufstands gegen den von Altersstarrsinn befallenen Mubarak wurde. Und es war Mohammed Nabbous in Libyen, dessen Ermordung durch Gaddafis Sicherheitskräfte dem Widerstand gegen den exzentrischen Despoten entscheidend mitgestärkt hatte. Wir, die wir nicht in der islamisch geprägten Kultur aufgewachsen sind, können nur schwer nachvollziehen, welchen Symbolcharakter diese Figuren für die revolutionären Bewegungen innerhalb der arabisch-nordafrikanischen Gesellschaft haben.

An dieser Stelle beantworte ich ohne grosse Umstände die Frage, wie ich selber zu der syrischen Freiheitsbewegung gestossen bin. Als ich anfing, auf dem Netzwerk Twitter und der Plattform Blogspot zu posten und zu schreiben, war ich zuerst mit dem Aufstand der Jemeniten gegen ihr äusserst durchtriebenes Oberhaupt Abdullah Ali Saleh in Kontakt getreten. Mich berührten damals die Bilder aus Sanaa und Taiz zutiefst, auf denen vor allem junge Leute und Frauen zu sehen waren, die durch und durch friedvolle Proteste gegen die Herrschaftsclique inszenierten. Die Antwort des Regimes war - wie sollte es auch anders zu erwarten gewesen sein - blanke Waffengewalt. Damals sind noch nicht so viele Videos und Bilder von erschossenen oder gar verstümmelten Zivilopfern zu sehen gewesen wie es heute am Beispiel Syrien der Fall ist, doch die Beschreibungen der jemenitischen Tweeps von Dauerfeuer und dem Einsatz schwerer Artillerie sorgten durchaus dafür, dass die Aufmerksamkeit mehr und mehr auf den südlichen Nachbarn Saudiarabiens gerichtet wurde. Ich versuchte, meinen Teil beizutragen und meiner stetig wachsenden Twittergemeinde und meinen damaligen Mailkontakten im eigenen Land die Ereignisse in einem der ärmsten Länder der Erde nahezubringen. Letztere reagierten übrigens eher spärlich auf meine Informationen, was ich ihnen jetzt nicht unbedingt zum Vorwurf machen möchte, da es jedem selbst überlassen ist, ob und wieviel Anteilnahme er oder sie bereit ist, in die Sache für Freiheit und Gerechtigkeit in einem anderen Land zu investieren, doch ein wenig enttäuscht war ich damals zugegebenermassen schon. Dafür begann sich mein Followerkreis auf der Mikrobloggerplattform mehr und mehr zu konstituieren; nach den Jemeniten kamen im Zuge der Rebellion gegen Gaddafi die libyschen Online-Freedom-Fighter dazu, denen ich mich sofort angeschlossen hatte - der Funke des Arabischen Frühlings setzte mein Gemüt in positivem Sinne mächtig unter Feuer und ich war durch und durch im sogenannten Benghazi-Fieber, der Hochburg des Widerstands gegen den ungeliebten ,Bruder Führer‘ erlegen. Unter den Gaddafi-Gegnern auf Twitter fanden sich auch viele Syrer, die meisten von ihnen im Exil. Ein paar jedoch twitterten aus ihrer Heimat. Mein erster richtiger Kontakt mit einem Einheimischen vor Ort war ein junger Mann aus Damaskus, dessen Namen ich aus Sicherheitsgründen für mich behalte, da sich seine Familie nach wie vor in Syrien aufhält und der Gefahr der Inhaftierung ausgesetzt ist. Auch er schrieb deutliche Worte gegen die Tyrannen der arabischen Welt inklusive seines eigenen Präsidenten, was mich zutiefst beeindruckte. Wir waren und sind bis heute vor allem durch unseren Glauben verbunden, so verwirrend das jetzt für Aussenstehende klingen mag: er von seiner sunnitischen Seite und ich durch meine lutheranische Prägung. Uns beiden liegt sehr viel an einer toleranten Haltung unser beider Glaubensrichtungen für den jeweiligen anderen. Ich erwähne derartige Details aus dem hauptsächlichen Grund, um meine eigenen Beweggründe, den Völkern der arabischen Welt in dieser Art und Weise zu folgen, verständlich zu machen. Eines Tages schickte mir mein syrischer Bruder im Geiste einen Youtube-Videolink, auf dem eine kleinere Gruppe Demonstranten zu sehen war, die am Ende einer Strasse in einem der Vororte von Damaskus auf eine Einheit Sicherheitskräfte stiessen. In zwei Reihen, eine kniend, die andere dahinter stehend, hatten sie ihre Waffen entsichert und auf die sich ihnen nähernden Demonstranten gerichtet. Die Jungs diskutierten noch hektisch miteinander und der Handy-Kameramann bezog vorsorglich hinter einem Müllcontainer Stellung, als einer aus der Gruppe mit nach oben erhobenen Armen, quasi als Zeichen seiner Unbewaffnetheit, auf die Uniformierten zuging. In dem Moment eröffneten die Regimetruppen das Feuer. Man sah nur noch verwackelte Aufnahmen von zwei, drei Demonstranten, die einen getroffenen Mitstreiter auf ihren Schultern trugen und zusammen mit den anderen nach hinten losrannten. Ich war in dem Moment geschockt und sprachlos. Nie zuvor hatte ich derartige Bilder zu sehen bekommen. Noch am selben Tag schickte mein Freund mir einen weiteren Link. Diesmal zeigten die Aufnahmen einen auf dem gefliesten Boden eines Seiteneingangs liegenden jungen Mann mit weit aufgerissenen Augen, knapp überhalb seines linken Ohrs klaffte ein grosses Loch im Schädel, aus dem das Blut in Strömen sickerte. Man sah sofort, dass die Verletzung tödliche Folgen hatte. Neben ihm hockte ein unverletzter Demonstrant, der mit bebender Stimme auf arabisch von den Schüssen auf sie erzählte und der dann zur Verdeutlichung der Ereignisse Zeige- und Mittelfinger seiner rechten Hand in die Blutlache tauchte und den Ort sowie das Datum auf die Fliesen am Boden schrieb. Ich kann bei rückwirkender Betrachtung mit Fug und Recht behaupten, dass diese beiden Videos der Ausschlag waren, mich mit ganzem Herzen der syrischen Revolution zu widmen. Ein einziger Augenblick kann dein ganzes Leben verändern, heisst es so treffend, und in meinem Fall waren es diese beiden Momente, die sich auf meine innere Festplatte der Erinnerung eingebrannt hatten.

Die Freiheitsbewegung nahm den Sommer über ihren Lauf und wir hatten uns schon, so bitter es vielleicht auch klingen mag, mit den täglichen ein, zwei Dutzend Opfern unter den Zivilisten abgefunden, damals noch in der Hoffnung, die internationale Staatengemeinschaft möge baldigst ähnlich effektive Mittel gegen das Assad-Regime ergreifen, wie es bei Libyen und Gaddafi der Fall war. In der Zwischenzeit schloss ich die ersten Kontakte zu Exilsyrern hier in Bayern, die begannen, Solidaritätskundgebungen für ihre Landsleute zu veranstalten. Gleich bei der ersten Demonstration verwies mich einer der Beteiligten auf zwei recht finster dreinblickende Gestalten, die etwas abseits des Geschehens standen und eifrig Aufnahmen der Anwesenden machten: Regimegetreue, vermutlich von der syrischen Botschaft in Berlin direkt zu der Veranstaltung beordert. Als pikantes Detail am Rande sei zu vermerken, dass einer der beiden mit grosser Wahrscheinlichkeit zu den erst kürzlich des Landes verwiesenen Diplomaten gehört, was bedeutet, dass sie schon damals nicht nur im übertragenen Sinne ein Bild von mir hatten. (Letzteres bezieht sich auf die später entstandenen Videos, auf denen ich klar und deutlich Reden gegen das Regime haltend während ähnlicher Veranstaltungen hier in München und in anderen Städten zu sehen bin.) Ibrahim Qashooshs ,Yalla ir7al* ya Bashar‘ (Raus mit dir, Baschar) wurde zur zweiten Nationalhymne Syriens, während sein geistiger Vater einen drastischen Tod dafür erleiden musste: die Häscher des Regimes schnitten ihm nicht nur die Kehle durch, sie entfernten gleich noch seinen gesamten Kehlkopf, als Zeichen dafür, dass es jedem, der den Präsidenten schmähe, ähnlich ergehen würde. Doch was als Abschreckung gedacht war, führte wie so vieles letztendlich zum Gegenteil. Qashoosh wurde auch ausserhalb Syriens wahrgenommen und von anderen Künstlern in verschiedenen Ausdrucksformen gewürdigt. Ich für meinen Teil hätte beileibe nicht damit gerechnet, selber zum Interpreten seines Songs zu avancieren, als ich den Refrain auf einer der hiesigen Veranstaltungen per Megaphon angestimmt hatte. Wie die Jungfrau zum Kind kam ich nun zu Qashooshs Lied und war wohl zu dieser Zeit der einzige Deutsche, der sich des Werks in der Form annahm, auch wenn der Anfang nicht einfach war, die arabische Aussprache wollte erst richtig einstudiert sein, bevor man mich problemlos verstand. Das Wichtigste war jedoch, dass das Lied weiterlebte, und mit ihm die Erinnerung an einen mutigen Syrer, der uns damit einen Teil von sich auf ewig hinterlassen hat.

Da es nicht nur sehr schwer, sondern vor allem lebensgefährlich war, ernsthafte politische Oppositon innerhalb Syriens auf die Beine zu stellen - die existierenden sogenannten Oppositionsgruppen sind nichts anderes als gedungene Claqueure des Baath-Regimes - formierte sich unter den Exilsyrern der Syrian National Congress (SNC), dessen Hauptaufgabe bis heute darin besteht, von der internationalen Staatengemeinschaft ernstgenommen respektive anerkannt zu werden, und nach dem Libyschen Vorbild des NTC eine Alternative als Übergangsregierung nach dem Sturz Assads darzustellen. Genau daran nagelte nämlich die Front der Skeptiker ihre Argumente fest: was würde nach dem Fall des Regimes auf politischer Ebene passieren? Bestünde nicht die Gefahr sich ausweitender chaotischer Zustände ohne solide Führung? Dem traten Burhan Ghalioun und die anderen Mitglieder des SNC entschieden entgegen, indem sie ein gut überlegtes Programm präsentierten, mit dem sie bereits den einen oder anderen politischen Partner für ihre Sache gewinnen konnten. Doch das Misstrauen der Zivilbevölkerung Politikern im Allgemeinen gegenüber ist unverändert gross und es bleibt eine herausfordernde Aufgabe für die selbsternannte Dachorganisation der freien Syrer, den Zuspruch zu mehren, um nicht eines Tages im gleichen Topf mit allen anderen ungeliebten Entscheidungsträgern zu landen.

Keiner von uns konnte damals ahnen, dass mit Beginn des Ramadans die vom Regime in Gang gesetzte Gewaltspirale derart hochgekurbelt würde. Was sich bis dato immer freitags nach den traditionellen islamischen Gebeten in den Moscheen abspielte - Grossdemonstrationen über das ganze Land verteilt, die mit exzessiver Waffengewalt zerschlagen wurden - fand nun täglich statt. Die Opferzahlen verdoppelten, verdreifachten, vervierfachten sich vor unseren Augen und wir setzten all unsere Hoffnungen unverändert auf den Westen, die arabischen Nachbarländer, die Vereinten Nationen, eigentlich auf fast alle, dem Staatsterror irgendwie Einhalt gebieten zu können. Stattdessen wurden wir lediglich Zeugen der klassischen Eskalationsleiter der internationalen Diplomatie, auf der zwar deutliche Worte zum Zuge kamen („Wir verurteilen aufs Schärfste“, „das Ende der Fahnenstange ist erreicht“, „Baschar al-Assad hat entgültig seine Legitimität als Präsident verloren“, „wir werden ein starkes Signal senden“) und diverse Sanktionsmassnahmen wie etwa Einreiseverbote in die Europäische Union, Einfrierung von Geschäftsvermögen der Regimemitglieder ausserhalb des Landes oder der Importstopp von syrischen Wirtschaftsgütern verhängt wurden, jedoch keine wirklich erfolgreichen Taten zur sofortigen Beendigung der Gewalt gegen Zivilisten auch nur im Ansatz durchgesetzt werden konnten. Stattdessen blieb der Tod ein ständiger Begleiter der friedlichen Aufstände.

In solchen Momenten mischt sich unter die Anfangseuphorie und den Optimismus einer Revolution spürbar Enttäuschung, Erschöpfung, Frustration, Ratlosigkeit - und berechtigte Wut. Unter die Slogans der ersten Stunden, die an die Einheit der Bevölkerung mahnen und den Abgang des Herrschertums fordern, waren zum ersten Mal deutlichere Worte zu vernehmen: aus ,ash7ab* yureed isqat al-nizam‘ (Das Volk verlangt den Rücktritt der Regierung) wurde nun ,ash7ab* yureed 3adam* al-rais‘ (Das Volk verlangt die Hinrichtung des Präsidenten). Wer hier seiner pazifistischen Ader freien Lauf lassen möge, indem er vor derart harten Ausdrücken zurückschreckt, dem sei in aller Deutlichkeit gesagt, dass wir es mittlerweile nicht mehr mit einer sogenannten moderaten Niederschlagung einer Freiheitsbewegung zu tun hatten (ich betone den Terminus moderat hier mit der nötigen Portion Sarkasmus), sondern mit gezieltem Massenmord an der Bevölkerung. Ich kann mir nur sehr schwer vorstellen, dass eine Mutter oder ein Vater, deren eigene halbwüchsige Kinder auf dem Weg von der Schule oder zur Bäckerei kaltblütig von regimetreuen Scharfschützen abgeknallt wurden wie tollwütige Hunde, grossmütig gegenüber den Auftraggebern reagieren. Gerade mal Heilige oder von besonderer Friedfertigkeit und Vergebung beseelte Naturen mögen dazu in der Lage sein, wir, die normalen Menschen mit unseren normalen Emotionen und Erwartungen an das Leben jedoch sicherlich nicht.

Nach Hama, der Stadt, die im Jahre 1982 unter Ausschluss der Weltöffentlichkeit eines der fürchterlichsten Massaker der jüngeren Menschheitsgeschichte erleiden musste und aus der im vergangenen Sommer jene atemberaubenden Bilder von hunderttausenden Demonstranten gegen das Regime und für die Freiheit nach aussen gelangten, wurde auch Homs, neben Aleppo die Wirtschaftsmetropole des Landes und über die Grenzen hinaus berühmt für den Humor seiner Einwohner, zum Hotspot des Aufstands. Es waren die legendären Videos der Homsis, in denen sie Auberginen als Handgranaten oder Gehstöcke als Gewehre präsentierten, um der Welt da draussen zu zeigen, dass sie sich keineswegs mit echten Waffen gegen die Sicherheitskräfte zur Wehr setzen konnten, wie es das Regime immer wieder behauptet hatte. Sie widerlegten den Mythos der ,bewaffneten Banden‘ durch selbstgebaute Katapulte, mit denen sie Kartoffeln und Zwiebeln über die Häuserblöcke Richtung Armeeeinheiten schossen und schafften es immer wieder, uns trotz des grausamen Alltags bestehend aus Terror, Tod und Verwüstung ein Schmunzeln abzuringen. Die einzigen, die nicht wirklich darüber lachen konnten, waren die Regimevertreter selbst. Und so begann ein Rachefeldzug, während dem ganze Ortsviertel der nördlich des Libanon gelegenen Stadt in Schutt und Asche gelegt wurden und immer noch werden, zahllose Massaker stattfanden und immer noch stattfinden. Inshaat, Bab Sbaa, Al Khaldiye und Baba Amr sind die hauptsächlich betroffenen Stadtteile, deren Anblick mittlerweile eher an Beirut während der achtziger Jahre oder das heutige Mogadischu erinnert. Die Menschen sind regelrecht eingekesselt, Soldaten bilden Sperren zwischen den jeweiligen Distrikten, Krankenhäuser werden zur Todesfalle für verwundete Demonstranten, die humanitäre Situation hat ihren kritischen Punkt bereits bei weitem überschritten.

Mit den ersten Desertationen begann sich unter dem Kommando von Riad al-Asaad die Freie Syrische Armee (FSA) zu formieren. Immer mehr Soldaten entsagten dem Baschar-treuen Kommando und weigerten sich, auf ihre unbewaffneten Landsleute das Feuer zu eröffnen. Ein mutiger Schritt, da ihnen im Falle ihrer Ergreifung der sichere Tod droht. Die FSA stellte sich vor allem in Idleb und in Homs gegen die regimeloyalen bewaffneten Einheiten, um Zivilisten zu schützen und weitere Massaker zu verhindern. Klar, Assads Lieblingsargument von ,bewaffneten Banden‘ mag in dem Moment neutral betrachtet eine gewisse Rechtfertigung erfahren haben, doch sollte man nicht ausser Acht lassen, dass wir es hier mit Menschen zu tun haben, die dem Kadavergehorsam im Namen des eigentlichen militärischen Eids, nämlich neben dem Land vor allem dessen Bevölkerung zu schützen anstatt sie umzubringen, Paroli bieten. Und was die internationale Staatengemeinschaft bis zu diesem Zeitpunkt nämlich nicht zustande gebracht hat, konnte die stetig wachsende FSA zumindest in Teilen umsetzen: dem Volk Sicherheit vor den mordenden Regimeeinheiten bieten. Heute ist die FSA der einzige Garant dafür, dass die Regimetruppen nicht permanent tun können, was sie wollen. Und dass selbst die shabi7a* (Geister), zivile Schläger- und Mörderbanden, die für die Geheimdienste die Drecksarbeit erledigen, keinen absoluten Freifahrtschein für ihre Untaten mehr besitzen. Die Forderung nach logistischer und militärischer Unterstützung der FSA ist in der letzten Zeit richtig laut geworden und ich stimme vorbehaltlos in den Chor derer ein, da es hier um nichts anderes als Selbstverteidigung geht. Zwar tendiere ich immer noch zu gewaltfreien Mitteln und habe die Schriften von Gene Sharp genauso eingehend studiert wie die Methoden der CANVAS-Gruppe, doch gibt es eine natürliche Grenze, die bewaffnete Gegenmassnahmen legitimiert: wenn die andere Seite sich trotz aller Aufforderungen nicht nur weigert, das Gewehr aus der Hand zu legen, sondern unvermindert weiterschiesst. Die pazifistischen Fundamentalisten werden mich nicht vom Gegenteil überzeugen können.

Es folgte im Herbst der diplomatischen Tragödie nächster Teil. Die Arabische Liga, nicht zu Unrecht als Club der Diktatoren verunglimpft, besann sich wohl auch aufgrund eines erhobenen Zeigefingers aus Moskau der Möglichkeit, eine eigene Vermittlermission auf die Beine zu stellen, um dem allgemeinen Vorwurf der Tatenlosigkeit entgegenzuwirken. Im Vergleich zu dem Tempo, mit dem die Liga Entscheidungen über das weitere Vorgehen fällte, wirkte jedoch selbst die schwerfälligste Dampflok der Gründerzeit wie ein getunter Transrapid. Noch hatten wir alle, die die Ereignisse in der arabischen Welt aufmerksam verfolgten, den desaströsen Auftritt des Gulf Cooperation Council (GCC) im Jemen vor Augen und wie perfide Saleh damals mit ihnen Schlitten gefahren ist. So verwunderte es auch nicht allzu sehr, dass nicht die eigentlichen Entscheidungen der Liga, sondern viel mehr die jeweiligen Vertagungen derselben im Vordergrund standen, während Assad und seine Häscher weiterhin unbeeindruckt Jagd auf das eigene Volk veranstalten durften. Nach einer gefühlten Ewigkeit - anders ausgedrückt: über tausend getötete Zivilisten später - wurde die avancierte Beobachtermission in die Tat umgesetzt, unter der Führung des sudanesischen Generals al-Dabi, einer äusserst dubiosen Erscheinung in Sachen Menschenrechte und objektive Berichterstattung. Die Bilder, die wir daraufhin präsentiert bekamen, sorgten zurecht für weltweiten Hohn und Spott. Schlecht vorbereitet, noch schlechter ausgerüstet, wanderten die in orangene Westen gekleideten Beobachter, selbst peinlich genau von ihren Begleitern des syrischen Regimes beobachtet, durch die Strassen und erinnerten eher an einen Betriebsausflug denn eine faktensammelnde Mission. Immer wieder waren auf den hochgeladenen Youtube-Videos (die Bilder des staatsnahen Senders Adounia konnte man sich getrost sparen, es sei denn, man hatte einen Faible für unfreiwillige Komik) aufgebrachte Bürger zu sehen, die den Beobachtern ihre Eindrücke erzählen und sie zu bestimmten Orten, an denen sich die Gewalt der Sicherheitskräfte entladen hatte, führen wollten. Besonders al-Dabi stach dabei durch eine deutlich zur Schau getragene Teilnahmslosigkeit hervor. Als einziger kommentierte er durchgehend das Erlebte in regimekonformen Jargon, während die die ersten Teilnehmer der Mission das Weite suchten und im sicheren Heimathafen angelangt ihrerseits von mehr als beunruhigenden Bedingungen sprachen. Nicht zu vergessen sind ebenfalls die geradezu nach Inszenierung riechenden Detonationen in Damaskus, die sich gleich nach Ankunft der Gäste ereignet hatten. So pervers das jetzt vielleicht klingen mag, doch der ganze Aufstand hatte zu diesem Zeitpunkt dank der tatkräftigen Mitwirkung des Regimes den Charakter einer Boulevard-Groteske angenommen.

Und die Leidtragenden selbst? Von den Aktivisten der lokalen Koordinationskommittees über die Demonstranten bis hin zur Zivilbevölkerung? Man hätte durchaus erwarten können, dass die vom Regime angestrebte Hollywoodisierung die ursprüngliche Freiheitsbewegung erfolgreich an den Rand hat drängen können, ein Effekt, der im medialen Zeitalter nicht zu verachten ist. Doch zum einen haben sich die protestierenden Massen nicht in die ihnen gestellte Falle begeben und verfolgen unverändert ihre eingangs gesteckten Ziele weiter. Und zum anderen hat sich die internationale Staatengemeinschaft ihrerseits nicht davon verwirren oder gar anstecken lassen, wie es die letzte Abstimmung des UN-Sicherheitsrats zutage gefördert hat. 137:12 lautete das wahrhaft positive Ergebnis für eine Resolution gegen das Regime und auch wenn das Dutzend Vetoländer zwei dicke Brocken, Russland und China, beinhalten mag, die noch in der Lage sind, den Rest der Welt mit ihren sturen Ansichten zu knebeln, so ist es doch ein Erfolg für eine bestimmte Haltung, die hier notwendigerweise zum Ausdruck gebracht wurde. Man ist selbst mit der Zeit und all den enttäuschenden (Nicht-)Beschlüssen gewissermassen bescheiden geworden und versucht sich, auf das Wesentliche, die Menschen in Syrien selbst zu konzentrieren, deren Leben schon immer an einem seidenen Faden hing, seit Hafez al-Assad vor einem guten halben Jahrhundert die Macht errang, nur heute, da sie die Mauer der Angst zu überwinden bereit sind, umso mehr.

Viele haben bis heute ihr Leben gelassen auf dem Weg zur erstrebten Freiheit. Ihr Tod ist nicht etwa ein Detail einer übergeordneten Statistik. Hinter jedem steckt eine Familie und ein Freundeskreis, die um den Verlust trauern. Fast jeder Syrer kann von einem Angehörigen oder einem Bekannten erzählen, der entweder umgebracht oder verschleppt wurde. In den Gefängnissen des Regimes und der Geheimdienste sitzen noch Abertausende politischer Gefangener, manche von ihnen seit Jahrzehnten. Es gibt in Syrien einen Ausdruck dafür, in den Händen der Staatsgewalt zu sein: man befindet sich hinter der Sonne. Auch die Aktivisten von heute haben ihre Erfahrung mit den spezifischen Haftbedingungen gemacht. Manche hatte Glück wie die Bloggerin Razan Ghazzawi, die mittlerweile gleich zweimal festgenommen wurde, jedoch wohl aufgrund des öffentlichen medialen Interesses vor allem der Twitter-Community, die sich lautstark für sie eingesetzt hatte, wieder auf freien Fuss kam und der berüchtigten Foltermaschine des Regimeapparates entging. Andere wiederum hatten weniger Glück. Giath Mattar etwa, der für seine koordinierenden Tätigkeiten mit dem Leben bezahlen musste. Sein ausgeweideter Leichnam wurde der Familie übergeben. Auch er wird nicht vergessen werden.

 Es gibt noch etliche Details und Geschichten, die an dieser Stelle rund um die syrische Revolution erwähnenswert sind, doch habe ich mich entschlossen, ohne grössere Recherchen einfach aus meiner persönlichen Erinnerung heraus zu schreiben. Wie anfangs bereits erwähnt würde eine genaue Auflistung der Ereignisse sicherlich ein ganzes Buch füllen. Doch die Revolution ist noch nicht erfolgreich beendet. Noch sitzt Baschar al-Assad im Präsidentenpalast in Damaskus und spielt sich unverbrämt als Mister Mou7amara* (Verschwörung) auf. Noch morden seine Schergen täglich in den Städten und Dörfern Syriens. Noch hält das russische Regime aus Trotz und Eigeninteresse an den Machthabern fest und warnt vor Fremdeinmischung - letzteres scheint allerdings nicht für das iranische Regime zu gelten, da Assads Busenfreund Achmadinedschad die eine oder andere Quds-Brigade zur Unterstützung der syrischen Regimetruppen über die Grenze kommandieren darf, ohne eine Schelte oder gar Schlimmeres befürchten zu müssen. Doch der Entschluss, die Freiheitsbewegung auch nach einem Jahr voller Opfer und Leid fortzuführen und ein Assad-freies Syrien zu realisieren, hat sich in den Herzen und den Köpfen vieler bereits unwiderruflich festgesetzt. Ich glaube, sie wussten von Anfang an, dass es nicht einfach wird. Dass der Preis für die Erlangung von Freiheit, Würde und Gerechtigkeit hoch sein wird, sehr hoch im Extremfall. Diese Revolution hat auch mich verändert. Das erste Wort, das ich auf arabisch gelernt habe, war 7orriyeh* (Freiheit). Aus einem kreativen Genussmenschen mit einem Herz für die Schwächeren wurde Mundass Almani, der deutschstämmige Regimefeind. Ich trage diesen Titel heute voller Stolz. Von allen revolutionären Slogans, die ich in diesen fast zwölf Monaten kennen- und sehr schätzen gelernt habe, hat einer besonders mein Herz berührt:

,Al-mawt wa la al-mazale.‘

Eher Tod als Unterdrückung. Lange habe ich überlegt, wo ich das schon mal gehört oder gelesen hatte. Mittlerweile ist es mir wieder eingefallen. Es war vor etwas mehr als über einem Jahr, kurz bevor der Arabische Frühling ausbrach. Über dem Eingang eines Hauses auf Sylt, der nördlichsten aller deutschen Inseln, stand auf friesisch zu lesen:

,Lewwer duad üs slaav.‘

Lieber tot als versklavt. Der Wappenspruch der Nordfriesen. Das Motto der freiheitsstrebenden Syrer. Das Motto aller freiheitsliebenden Menschen auf der Erde. Und auch mein Motto.

* Zur Erläuterung der Arabizi-Schreibweise, die ich benutze und die vielleicht nicht jedem geläufig sein dürfte: die Zahl 7 steht für das deutsche h, die Zahl 3 für den Kehllaut zwischen ch und kh.


(Syrien über alles! Auch ohne dich, Assad!)

No comments:

Post a Comment