Sunday, November 13, 2011

Syrien nach Assad - kein blosses Gedankenspiel mehr

Ist es zu früh, sich Gedanken über ein Syrien in der Zeit nach Assad zu machen? Allerhöchstens im Fall einer extremen Abergläubigkeit, und selbst dann ist es eine Frage der Verstands, ob wirklich etwas dagegen spricht, sich die von den Syrern herbeigesehnte Demokratie in all ihren Facetten nicht nur bildlich, sondern vor allem inhaltlich vorzustellen. Derartige Überlegungen solange beiseite zu drängen, bis der verhasste Tyrann endgültig gestürzt ist, hiesse sich seiner eigenen Weitsichtigkeit zu berauben, wie es uns zahlreiche Beispiele der politischen Geschichte vor Augen führen. Solche Gedanken sind ein wichtiger Bestandteil des gesellschaftlichen Umbruchprozesses, beginnend mit der öffentlichen Bezeugung des geforderten Systemwechsels und langfristig endend mit dem Schliessen sämtlicher Hintertüren, durch die das gestürzte Herrschaftswesen wieder an die Macht gelangen könnte.

In Libyen haben sich der NTC und engagierte Bürger bereits zu einer Zeit den Kopf über die Neuordnung ihres Landes zerbrochen, als an mehreren Fronten noch heftige Kämpfe stattfanden und ein endgültiger Sieg über die Gaddafi-Getreuen und ihre Söldner zeitlich noch nicht auszumachen war. Zeitgleich saß in Italien noch ein demokratisch gewählter Despot an der Macht, der seine Position hauptsächlich dem fehlenden Gesamtkonzept einer in sich zerstrittenen Opposition zu verdanken hatte.

Die Vorstellung einer Überwindung der herrschaftlichen Verhältnisse ist immens wichtig, um den Willen gerade im Fall von Rückschlägen aufrecht zu erhalten oder, wie in Syrien seit Monaten zu sehen ist, während permanenter brutaler Übergriffe und Provokationen seitens der Armee und der Sicherheitskräfte. Doch auf einer bestimmten Ebene muß diese Vorstellung auch auf die Konkretisierung der eigenen Forderungen erweitert werden, um jenen den Boden zu entziehen, die sich auf ein mangelndes Konzept oder Bedenken gegenüber einer möglichen Verschlimmerung der allgemeinen politischen Lage durch eine Veränderung an der Spitze berufen und so, unfreiwillig oder direkt, dem Regime in die Hände spielen.

Die Revolution selbst ist in ihrer Anfangsphase etwas Spontanes, das entweder einem länger gehegten Begehren entspricht oder durch einen besonderen Zwischenfall zum Ausbruch kommt. Doch mit zunehmender Dauer des aktiven Widerstands wächst auch die Anforderung an die Revolutionäre und ihre Unterstützer, ihre Vorstellungen der Zeit nach dem erfolgreichen Sturz des Regimes zu konkretisieren. Je eher das passiert, desto besser für die Widerstandsbewegung. Sie kämpft ja nicht ausschliesslich gegen die Verteidiger der Tyrannei, sondern ebenfalls gegen die Lobby der Bedenkenträger, die meistens keine explizite Loyalität zu einer der beiden Seiten bekunden und sich durch taktierendes Abwarten auf einer sicheren Seite wähnen. Von ihrer Haltung profitiert ausschliesslich das bestehende System.

Um die Argumente dieser Gruppe soweit als möglich zu entkräften, reichen reine Gedankenspiele allein nicht aus. Alternativkonzepte zur noch bestehenden Staatsform müssen präzisiert werden. Mit der Verlautbarung eines derartigen Entwurfs ist es Dr. Burhan Ghalioun, Präsident des syrischen Nationalrats SNC, bereits gelungen, den ersehnten Machtwechsel auf politischer Ebene zu verankern. Jene Regierungsvertreter, die sich bis jetzt noch nicht über die Zeit nach Assad im Klaren sein sollten, können seiner Ende Oktober gehaltenen Rede an das syrische Volk ein klares Konzept zur notwendigen Umgestaltung des syrischen Staatswesens entnehmen.

Es ist ein Anfang, der in den kommenden Monaten durch Gespräche und Übereinkünfte seinen Lauf nehmen wird. Während Assads Unfähigkeit, Reformen zu implementieren und, was noch viel dramatischer ist, seine eigenen Sicherheitskräfte unter Kontrolle zu halten, immer deutlicher zutage tritt, werden die Statuten einer politischen Modernisierung des Landes im Namen seiner Bevölkerung kontinuierlich ausgearbeitet. Dabei spielen klar umgrenzte Definitionen wie Gewaltenteilung und Willensbildung ebenso eine eminente Rolle wie die Garantien, sich an die Menschenrechte zu halten und Vergeltungsmassnahmen von vorn herein auszuschliessen.

Vor allem letzteres sollte in aller Deutlichkeit betont werden, um zum einen das Vertrauen derer nicht zu verspielen, die die Widerstandsbewegung in Syrien gerade wegen ihrer Gewaltlosigkeit vorbehaltlos unterstützen und zum anderen die Widerstandskämpfer selbst daran zu gemahnen, nicht gleiches mit gleichem zu vergelten und so auf das Niveau derer herabzufallen, die es zu überwinden gilt.

Natürlich haben viele der Geheimdienstler und Armeeangehörigen fürchterliche Verbrechen begangen, die weder vergeben noch vergessen werden können. Über ihr endgültiges Urteil wird im Falle ihrer Ergreifung das syrische Volk selbst zu entscheiden haben. Doch auch hier gilt es, diejenigen Gesetze einzuhalten, für die man selbst im Namen der Gerechtigkeit den opfervollen Kampf angenommen hat.

Als anerkennungswürdiges Beispiel sind jene Bilder aus libyschen Krankenhäusern ins Gedächtnis zu rufen, auf denen verwundete Gaddafi-getreue Soldaten zu sehen waren, die von Freiheitskämpfern zur Behandlung eingeliefert wurden. Anstelle ihnen den kurzen Prozess zu machen, wurden sie medizinisch versorgt. Eine Haltung, die zutiefst Respekt gegenüber dem menschlichen Leben an sich zutage legt und deutlich zeigt, dass eine Gewaltspirale nur durch eine fundamentale Veränderung des eigenen Verhaltens gestoppt werden kann.

Was die Hauptverantwortlichen nach dem Sturz des Regimes in Syrien zu erwarten haben, obliegt derzeit noch Vermutungen. Denjenigen jedoch, die im Auftrag gehandelt haben, dürfte eine angemessene Strafe in Form einer langjährigen, mitunter lebenslangen Haft zuteil werden. Dafür braucht man keine neuen Gefängnisse errichten. Wer gefoltert hat, sollte nach seiner Verurteilung unter Einhaltung aller rechtlichen Prinzipien in den selben Zellen und Trakten untergebracht werden, in denen er selbst als ausführendes Organ tätig war. Seine Strafe bestünde darin, den Spiegel vorgehalten zu bekommen für das, was er auf Anweisung ausgeführt hat, ohne in dem Fall gleiches mit gleichem zu vergelten. Eine Vorgehensweise, die, denke ich, keinem aktiven Menschenrechtler aufstossen sollte.

Für alle Mitläufer gilt erst einmal das Prinzip der Amnestie, was keineswegs bedeutet, dass ihre Sympathie für das gestürzte Regime vergessen sein wird. Die tiefen Wunden, die in beinahe fünf Jahrzehnten dynastischer Diktatur und bisher über acht Monaten blutigen Machtkampfs geschlagen wurden, brauchen ihre Zeit zur Ausheilung. Dieselbe Zeit werden auch die Labilen unter den Regimeloyalen benötigen, um ihre Ängste vor Vergeltung ab- und ein gegenseitiges Vertrauen aufzubauen. Wir dürfen nicht ausser Acht lassen, dass die Assad-Herrschaft fast ein halbes Jahrhundert lang Misstrauen und Spitzelmentalität systematisch in der syrischen Gesellschaft eingepflanzt haben. Um das zu überwinden gilt es, behutsam und sensibel aufeinander zuzugehen. Wir als Freunde des syrischen Volks können ihnen dabei mentale und moralische Unterstützung gewährleisten, indem wir sie bei ihrem Prozess, zu einer Einheit zusammen zu wachsen, begleiten, ohne bevormundend zu wirken.

Nach all dem, was die Syrer an Leid in der jüngeren Geschichte erdulden mussten, sei es ihnen von Herzen zu wünschen, bald ihre neu gewonnene Freiheit nicht nur in vollen Zügen zu geniessen, sondern auch die damit verbundene Verantwortung einer dauerhaften politischen Verankerung derselben erfolgreich umzusetzen.

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