Zugegeben, es ist wirklich nicht einfach, sich als Normalbürger einen dezidierten Überblick über die aktuelle Situation in Syrien zu verschaffen. Mit Glück kennt man einen Syrer, der einem Hintergründe und Entwicklungen näher bringen kann, doch es ist nicht gesagt, auf welcher Seite dieser steht: haben wir es mit einem Andersdenkenden zu tun, der selbst Opfer der Repressalienpolitik des Regimes wurde, oder ist derjenige ein Günstling und Verfechter der herrschenden Klasse, der unter Umständen schlau genug ist, sich mit eindeutigen Kommentaren und Bekenntnissen zurückzuhalten und trotzdem die Sicht- und Handlungsweise der Diktatur geschickt propagiert?
Fragen, die wir Deutsche uns automatisch stellen, da unser Zögern bezüglich voreiliger Parteinahme auf die Zeit des nationalsozialistischen Terrors des vergangenen Jahrhunderts zurückzuführen ist. Der Stachel des NS-Regimes wirkt auch mehrere Generationen später fort, und das ist durchaus positiv zu bewerten. Die Schattenseite unseres Verhaltens jedoch offenbart sich in Situationen, in denen abgesehen vom aktiven Eingreifen in einen prekären Sachverhalt wie etwa die massive Verletzung von Menschenrechten an anderen Orten der Welt selbst eine deutliche Stellungnahme in Verbindung mit den eigenen gegebenen Möglichkeiten, Solidarität zu zeigen, ausbleibt.
Es wäre grundlegend falsch, diese Passivität auf den Charakter der nordeuropäischen Völker zurückzuführen, die sich zwar durch ein gewisses Mass an Rationalität von ihren eher emotional geleiteten südeuropäischen Nachbarn unterscheiden mögen, doch ein vergleichender Blick auf die Protestkultur der Engländer zum Beispiel zeigt, dass in Deutschland eine ganz eigene Perzeption bezüglich als relevant empfundener Themen vorherrscht. Vom Ausstieg aus der Atomkraft bis zu den massiven Protesten gegen Zensurmassnahmen im Internet wird die deutsche Natur von Problemen geleitet, die unmittelbaren Einfluss auf die Freiheit oder die Lebensqualität des Einzelnen haben.
Daher wirken die Ereignisse des Arabischen Frühlings auf unsere Landsleute in erster Linie befremdend. Über Jahrzehnte war von Unmut oder gar aufgestauter Aggression gegen die herrschenden Klassen in Nordafrika und im Mittleren Osten nicht viel zu spüren gewesen. Die dortigen Machthaber verstanden es ihrerseits, mithilfe verallgemeinender Angstprojektionen, etwa der heraufbeschworenen Gefahr unkontrollierbarer Flüchtlingsströme oder der prophezeiten Radikalisierung der eigenen Bevölkerung, die westliche Hemisphäre zu einem fait accompli zu bewegen, das eine trügerische Stabilität in der Wahrnehmung der ersten Welt zur Folge hatte.
Aufbruch zur Veränderung bedeutet zwangsläufig Unruhe, die wiederum Bedenken auslöst. Eine natürliche Reaktion, die jedoch im speziellen Fall von Syrien zu einer für die dortige Zivilbevölkerung fatalen Machtlosigkeit der internationalen Gemeinschaft geführt hat, dem Despoten Assad und seinen mordenden, plündernden und brandschatzenden Sicherheitskräften Einhalt zu gebieten.
Ein Kernproblem in der hiesigen Wahrnehmung stellt mit Sicherheit das Gespenst des Sektierertums dar. Durch das künstlich inszenierte Aufwiegeln der einzelnen Glaubensgemeinschaften gegeneinander entsteht in den Köpfen vieler das falsche Bild einer prinzipiellen Unvereinbarkeit der einzelnen religiösen Strömungen. Dem muß an dieser Stelle energisch widersprochen werden, denn wir reden hier von einer lediglich implizierten Gefahr, die in ungefähr dem selben Argumentationsniveau entspricht, in Deutschland könne jederzeit aus einer rechtsextremistisch orientierten Splittergruppe innerhalb kürzester Zeit eine dominierende suprematistische Mehrheit erwachsen. Es finden sich bei intensiverer Recherche genügend Anzeichen dafür, dass der Plan des Regimes, die einzelnen Gruppen in einen erbarmungslosen Konflikt zu ziehen, keinen Nährboden findet. Die Forderung der protestierenden Syrer nach nationaler Einheit, egal welcher ethnischen oder religiösen Abstammung, wird oft und laut genug vorgetragen und prominente revolutionäre Mitstreiter, die Minderheiten angehören, melden sich oft genug zu Wort, um die manichäischen Mechanismen der Regime-PR zu widerlegen.
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Ich hatte in dieser Woche die Chance, mir als Gastreferent auf zwei Informationsveranstaltungen in München und in Regensburg ein paar wichtige Grundsatzfragen wieder ins Gedächtnis zu rufen, die durch die sich stetig aktualisierende Lage in den Hintergrund geraten sind. Erst einmal haben wir es mit einem lauten Appell der Syrer selbst zu tun, die aus ihrer Heimat heraus oder in ihrem jeweiligen Gastland die globale Gemeinschaft rufen: „Bitte helft uns!“ Die direkte Antwort der deutschen Bürger darauf wurde nach Abwägen mit einer durchaus berechtigten Rückfrage erteilt: „Wie?“ Berechtigt, da durch diese Reaktion erst der Boden eines informativen und als Folge produktiven Dialoges zwischen den beiden Kulturen geebnet wird.
In der Tat herrscht hier ein Mangel an verwertbaren Informationen, eine Lücke, die auf der zwischenmenschlichen Ebene nur durch die Berichte persönlicher Erfahrungen einzelner Betroffener und dem Engagement von Menschenrechtsgruppen, Aktivisten, Bürgerjournalisten und Bloggern zur Dokumentation jenseits der klassischen Massenmedien geschlossen werden kann. Unterstützend dazu dienen Einschätzungen erfahrener Politexperten, die die aktuelle Entwicklung in einen Gesamtkontext zur gesellschaftlichen Historie des betroffenen Landes zu versetzen in der Lage sind.
Die Schwierigkeit des Unterfangens besteht darin, den Blickwinkel der Betroffenen einnehmen zu können, ohne die eigenen Grundwerte dabei zu vernachlässigen. Ein Beispiel: viele Syrer haben in den vergangenen vierzehn Monaten ein oder gar mehrere Angehörige durch die willkürliche Gewalt der Regimekräfte verloren. Angesichts derartiger Schicksalsschläge ist es durchaus nachvollziehbar, dass einige unter ihnen dominiert von der eigenen Emotionalität ob des Verlustes zur Gegengewalt aufrufen und die Ermordung von Regimeangehörigen gutheissen. Doch gerade von letzterem müssen wir gerade aufgrund unserer westlich-abendländischen Prägung energisch absehen und jeglichen gewaltsamen Tod verurteilen. Da dies in einer sehr subtilen Form auch das repräsentative Element Russlands, eines Unterstützerstaates der Assad-Diktatur, tut, wirkt es auf den ersten Blick auf die betroffenen Syrer, als wenn selbst der Westen, von dem man sich Unterstützung erhofft, in den allgemeinen Chorus der zögerlichen Haltung einstimmt und so den Menschen vor Ort das Bild vermittelt, die gesamte Welt sei nicht am Schicksal der freiheitsstrebenden Syrer interessiert.
Ein Bick auf die bisherigen politisch-diplomatischen Bemühungen des Westens zeigt, wie sehr ein eventueller Waffengang zur Unterstützung der revolutionären Bewegung in Syrien gescheut wird und aufgrund dessen sämtliche anderen Spielarten der Knebelung des regimes aufs Tableau gebracht werden. Die Kette der gegen Assad und Konsorten verhängten Sanktionen in etwa weist auf dem finanzpolitischen Sektor mittlerweile erste sichtbare Erfolge auf. Erst vor kurzem ist durchgesickert, dass das Regime die eigenen Goldreserven durch Eilverkäufe weit unter aktuellem Preis in bare Münze zur weiteren Finanzierung des Machterhalts umzuwandeln versucht.
Das hilft natürlich den Menschen in ihrer Not nicht unmittelbar, da das Regime nachwievor schwere Waffen von seinen Verbündeten bezieht und der Wunsch der revolutionären Oppositionellen nach adäquater Bewaffnung zum Schutz und zur Selbstverteidigung bisher unerfüllt geblieben ist. Doch jegliche militärische Option bleibt aus mehreren Gründen vorerst ausgeschlossen. Ausser einer drohenden Eskalation, die im Extremfall einen Flächenbrand zur Folge hätte, muß man diese Haltung im Kontext sämtlicher Interventionen und friedensstiftenden Aktionen der westlichen Gemeinschaft betrachten, um zu verstehen, woher die zögerliche Haltung rührt. Ein Statusbericht über Afghanistan, Somalia und den Irak genügt, um die Problematik zu verdeutlichen. So gut wie kein internationaler Einsatz hat bislang zu einem zufriedenstellenden Resultat geführt, das weitere Einsätze auf der selben Basis rechtfertigt.
Erschwerend kommt hinzu, dass eine einige Haltung aller dominierenden Beteiligten der internationalen Staatengemeinschaft immer noch ausgeschlossen erscheint. Zu unterschiedlich sind die durch Eigeninteressen gesteuerten Lösungsansätze der führenden Nationen. Wäre Syrien bildlich gesprochen ein Patient mit akuten lebensbedrohlichen Symptomen, bestünde für ihn keine Rettung, da sich die verantwortlichen Chefärzte um die Durchsetzung ihrer eigenen Diagnosen streiten würden. Selbst die Einrichtung humanitärer Korridore, wie sie seit Monaten von vielen Syrern gefordert wird, ist anbetrachts der systemischen Uneinigkeit nicht umsetzbar. Stattdessen vermitteln die Repräsentanten den arrogant wirkenden Eindruck einer Erst-schauen-wir-mal-dann-sehen-wir-schon-Mentalität, die im schlimmsten Fall dem Diktator in Damaskus genügend Zeit und Spielraum gibt, seine Macht mit Mitteln zu festigen, die jenseits unserer moralischen Prinzipien liegen.
Wie man es auch dreht und wendet, ein gemeinsames Vorgehen gegen Assad kann nur mit der wohlwollenden Unterstützung Russlands Erfolg zeigen. Und Moskau dürfte im Normalfall zu einem interessierten Teilhaber werden, solange die eigenen Interessen der russischen Regierung gewahrt bleiben. Sei es nun der Fortbestand der syrisch-russischen Beziehungen auf wirtschaftlich-politischer Ebene im Allgemeinen oder die Garantie, den Hafen von Tartus auch nach dem Sturz Assads weiter als einzig verbliebenen strategischen Hafen im Mittelmeerraum in Anspruch nehmen zu können im Speziellen. Natürlich werden Assads engste Vertraute, vornan die libanesische Hisbollah und Irans Regime alles mögliche unternehmen, um derartige Ansätze zu unterbinden, einen Keil zwischen die Gesprächspartner zu treiben oder gar Sabotageakte zu verüben.
Die Gelegenheit, gerade in der syrischen Frage neue Wege des Miteinanders zu gehen, ist aufgrund der Sachlage günstig. Nach dem Fiasko der Arabischen Liga im vergangenen Herbst haben sich die Nachbarländer Syriens als wenig hilfreich zur Lösung der Sache erwiesen. Einzig der solidarische Zuspruch Libyens, die nach dem Sturz ihres eigenen Diktators die Revolution im Bruderland Syrien vorbehaltlos unterstützen sowie die indirekte Absichtserklärung Saudi-Arabiens und Qatars, die revolutionären Kräfte zu stärken, sind als Teilerfolg im Kampf gegen Assad auf politischer Seite zu vermelden. Die Vereinigten Staaten befinden sich derzeit mitten im Wahlkampf und sind alles andere als in der Lage, Initiativen zur Lösung des Syrien-Konflikts zu ergreifen. Während die Obama-Administration immer noch damit beschäftigt ist, Ordnung in die bisherigen Auslandseinsätze zu bringen, stossen die Republikaner bereits lauthals in das Horn der nächsten Intervention. Daher muß man die Absichten einer künftigen US-amerikanischen aussenpolitischen Ausrichtung allein schon aus logischen Gründen bis zur erfolgten Präsidentenwahl auf Eis legen.
Somit bleibt die Europäische Union als einziger Initiator, der in der Lage ist, Gespräche mit Moskau über einen gemeinsamen Kurs aufzunehmen. Dazu bedarf es eines weiteren Mitspielers, der als einziger Anrainerstaat in der Lage ist, aufgrund seiner Stärke dem syrischen Regime entgegenzutreten: der Türkei. Diese neu geschaffene Achse wäre in der Lage, einen detaillierten Plan zur Beendigung der Baath-Diktatur nicht nur zu erarbeiten, sondern auch kurzfristig in die Tat umzusetzen. Da Annans 6-Punkte-Plan bereits am ersten Tag unwiderruflich gescheitert ist und die Initiatoren dieses bis dato nicht wahrhaben wollen, ist es höchste Zeit, neue effektive Wege einzuschlagen, die das Leid der syrischen Zivilbevölkerung so schnell als möglich mindern können.
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Soweit zum politischen Aspekt. Was können nun die Bürger unseres Landes auf ihrer Ebene ausrichten, um nicht nur ein solidarisches Lippenbekenntnis abzugeben?
Mehr als sie denken. Zuerst einmal wie bereits eingangs erwähnt den Kontakt zu Einzelpersonen oder organisierten Initiativen der Exilsyrer im eigenen Land suchen. Die Sprachbarriere stellt insofern kein Problem dar, da die hier lebenden Syrer die Infokanäle in den sozialen Medien weitgehend auf deutsch hosten.
Ist erst einmal der Schritt getan, sich auf diesen Wegen die nötigen Informationen zu holen, können weitere Vorgehensweisen zum Erwecken des öffentlichen Interesses durch die Gründung von Arbeitskreisen oder Kontaktgruppen präzisiert werden. Gerade die Hochschulgemeinden bieten die Möglichkeit, ausser dem generellen Anliegen, aktive Massnahmen zu generieren, Solidarität mit den betroffenen Kommilitonen in Syrien zu zeigen - die Protestwelle gegen Assad hat mittlerweile den Campus von Aleppo erreicht und die Sicherheitskräfte des Regimes haben ihrerseits mit Verhaftungen und dem Einsatz scharfer Munition geantwortet, die den Tod mehrerer Studenten zufolge hatte.
Ob man nun eine Reihe von Informationsveranstaltungen ins Leben ruft, Mahnwachen anmeldet oder gleich einen Demonstrationszug plant, bleibt dem jeweiligen Arbeitskreis in seiner Entscheidung vorbehalten. Allein dieser Initialfunke gibt den hier lebenden Syrern das Gefühl, doch nicht komplett allein gelassen zu sein in einer Welt, die zumindest auf politischer Ebene noch nicht in der Lage ist, effektive kurzfristige Hilfestellung zu garantieren.
Auch sollten wir uns schnellstmöglich von dem Gedanken verabschieden, in Sachen Aktivismus aus dem Stand das Ei des Kolumbus präsentieren zu können. Sich zu engagieren bedeutet auch Zeit zu investieren und wir leben bekanntlich in einen System, das auf präzisem Zeitmanagement basiert. Eine Stunde Zeit in der Woche als Investment mag nicht wirklich viel erscheinen, doch in der Summe der sich engagierenden Mitbürger wird sich diese Investition durchaus rechnen. Und wer sich selbst nicht als kreativ genug einschätzt, Beiträge in die Richtung leisten zu können, obwohl der Wille zu einer aktiven Beteiligung vorhanden ist, sollte in dem Fall die Gruppendynamik gerade in bezug auf eine Arbeitsteilung nicht unterschätzen. Nicht jeder ist zum Macher oder Einzelkämpfer geboren. Und latente Führungsqualitäten lassen sich erst in der Praxis in Form einer organisierten Gruppe erarbeiten.
Ich hoffe, mit diesem Beitrag Berührungsängste bezüglich unserer syrischen Mitmenschen soweit aufgelöst zu haben, dass zumindest dem Versuch, sich engagieren zu wollen, nichts mehr im Wege steht. Deutschland hat in seiner Tradition durchaus eine Ader für revolutionäre Strömungen und Volksbegehren. Ich erinnere nur an den sanften Sturz des SED-Regimes, der mit der Parole: „Wir sind das Volk“ eingeläutet wurde, die 68‘er-Revolte gegen das Etablissement und natürlich die deutsche Revolution von 1848, aus deren Zeit unsere heutige schwarz-rot-goldene Fahne stammt - die Farben eines Studentenbundes. So sehr das Trauma des Dritten Reiches auch in unsere Gegenwart reicht, es sollte uns nicht daran hindern, Partei für die zu ergreifen, die ungerechtfertigten Repressalien bis hin zum Verlust ihres eigenen Lebens ausgesetzt sind.
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