Sie haben mich schon wieder vergessen.
Dabei wollte ich doch nur ein frisches Handtuch, das alte hat mittlerweile zu schimmeln begonnen, ich habe es ihnen gezeigt, durch die Gitterstäbe gehalten, sie gebeten, mir doch bitte diesen einen kleinen Gefallen zu gewähren.
Der junge Wärter hat sich als einziger kurz umgedreht und genickt, ich dachte, er hätte mich verstanden, doch ich habe mich wieder geirrt.
Vielleicht ist das ihre Taktik, uns hier unten genauso verschimmeln zu lassen wie dieses Handtuch. Auch wenn sie uns täglich einen Eimer Wasser zur körperlichen Hygiene mit dem kargen Frühstück in die Zelle stellen. Früher, sind es Monate her oder mittlerweile schon ein Jahr, da haben sie noch mit uns geredet, indem sie uns angeschrieen haben, um uns einzuschüchtern. Doch inzwischen haben sie selbst davon abgelassen. Kommentarlos besuchen sie uns hier unten zweimal am Tag, wechseln unregelmässig den Behälter für die Notdurft aus, nachdem sie sich ihre Halstücher über die Nase gezogen haben. Ich merke nach all der Zeit schon nichts mehr von dem Gestank, der mich anfangs beinahe um den Verstand gebracht hat. Auch wenn die Befragungen der Kommissare mitunter extrem schmerzhaft waren, erinnere ich mich, jede Sekunde ausserhalb des Zellentrakts geradezu genossen zu haben, weil es in den Befragungsräumen lange nicht so penetrant roch. Vor allem die langen Pausen während der Verhöre, in denen die Kommissare als weiteren Einschüchterungsversuch ihre Fragen extrem in die Länge zogen, waren für mich die Zeit, unmerklich tief Luft zu holen und selbst die Tabakschwaden eines kettenrauchenden Offiziers, der daneben stand, mit Wohlwollen einzuatmen. Ich hatte von anderen Gefangenen gehört, wie sie ihnen vor Beginn der Verhöre modrige Jutesäcke über den Kopf stülpten, an denen geronnenes Blut klebte. Mir hatten sie immer eine einfache Augenbinde angelegt, die Hauptsache für mich war immer, dass meine Nase frei war.
Berufsbedingt.
Bevor ich hier landete, war ich nämlich Leiter der Abteilung Qualität eines grösseren Seifenherstellers. Mein Geruchssinn war immer gefragt und meine Mitarbeiter bewunderten mich für meine olfaktorischen Fähigkeiten. Ob nun hier ein Spritzer Rosenessenz mehr vonnöten war oder dort der Patchoulianteil einen Tick zu hoch war, ich konnte meinen Beitrag leisten, ein Produkt zu einem Verkaufsschlager zu machen. Und ich hatte Spass an meiner Arbeit.
Bis sie mich eines Tages nach Feierabend auf dem Firmenparkplatz in Empfang nahmen. Dass ich sie ohne Umstände begleiten solle, brauchten sie mir nicht extra zu erklären, das konnte ich an ihren Gesichtern ablesen. Die ganze Fahrt über redeten sie kein Wort. Noch blieb ich gelassen, wenn ich mich recht zurückerinnere. Das Ganze ist sicher ein Missverständnis oder eine unbedeutende Routinegeschichte, redete ich mir ein.
Meine Hoffnung darauf verflog jedoch, als sie mich in ihrer Behörde den Geheimdienstlern übergaben. Zum ersten Mal bekam ich die Augenbinde verpasst, ich kann mich nach all der langen Zeit sehr wohl an die Gerüche auf meinem weiteren Transport erinnern; die stechende Schweissnote eines Staatsagenten, der typische Duft eines Neuwagens, in den man mich verfrachtete bis hin zum für mich beissenden Gestank der Zelle, in der man mich unterbrachte.
Nachdem sie mir die Augenbinde wieder abgenommen hatten, erkannte ich im Halbdunkel die anderen Insassen: teils verstörte, teils verschüchterte Blicke; lediglich zwei meiner Zellengenossen hatten besaßen noch den Funken Entschlossenheit und Stärke in ihren Augen, der ihre Ungebrochenheit zum Ausdruck brachte. Einer der beiden brachte mir gleich am Anfang eine wichtige Lektion zum Überleben in der Haft des Geheimdienstes bei. Lass dich niemals zu sehr emotional auf einen Mithäftling ein. Zum einen würden es die Wärter mit Sicherheit bemerken und an die Verhörleiter weitergeben, um während einer der Befragungen zusätzlichen Druck auszuüben. Ich konnte ihm zuerst nicht wirklich folgen, bis er mir erklärte, dass das Verhörkommando gerne Mithäftlinge vor den Augen der Befragten foltere, um so an Informationen zu gelangen. Das klang in dem Moment so unglaublich in meinen Ohren, dass ich es gar nicht wahrhaben wollte. Doch in den ersten Monaten meiner Haft wurde leider eines Besseren belehrt. Zum anderen sollte man sich nicht zu sehr an Mitgefangene gewöhnen, weil sie eines Tages höchstwahrscheinlich abgeholt werden und danach nie mehr zurückkehren. Sei es für den abwegigen Fall, dass sie freigelassen werden oder für den eher wahrscheinlichen Fall, dass ihre sterblichen Überreste wohl niemals gefunden werden ..
Jedes Mal konfrontierten sie mich bei ihren Befragungen mit Namen, die ich vorher noch niemals gehört hatte. Mal bekam ich ein paar kräftige Schläge ins Gesicht, mal hieben sie mit elastischen Ruten auf meinen Rücken oder meine Fußsohlen ein. Doch gingen sie bei mir aus irgendeinem Grund niemals bis zum Äussersten. Des öfteren habe ich unsägliche Schmerzensschreie durch die Wände aus den benachbarten Verhörräumen gehört, dazu Geräusche, die jemand mit lebhafter Phantasie durchaus in den Wahnsinn getrieben hätten, doch mir gelang es, all dies auszublenden uns mich auf mein eigenes Überleben hier drin zu konzentrieren.
Nur ein einziges Mal hätte ich mich beinahe auf die Stiefel des Wärters übergeben müssen, als er mich an einer offenen Tür vorbeiführte, durch die eine Schwade verbrannten Fleisches zog. Mein Geruchssinn, mein naturgegebenes Kapital bis dahin, wurde zu meiner Achillesferse. Zum Glück assoziierte der Wärter meinen Übelkeitsanfall nicht mit dem einhergehenden Geruch, sondern mit den Zusatzmassnahmen meiner vorherigen Befragung, er rief ein paar schmähende Worte über ich zu seinen Kollegen und schubste mich mit einem dreckigen Lachen auf den Zellenboden.
Ich war immer der felsenfesten Überzeugung, dass sie mich eines Tages einfach gehen liessen. Was konnte ich ihnen denn auch berichten? Nichts, was aus meiner Sicht von nationalem Interesse sei. Die Kreise, in denen ich mich vor meiner Internierung bewegt hatte, waren alles andere als politisch. Ich zählte mich mit Fug und Recht zu denen, die die Wirtschaft unseres Landes aufrecht erhielten, ihr dienten, zum Wohl des Staates und des Volks. Ich war kein grosses Tier, hatte mir einfach mein eigenes Leben aufgebaut, gerade eine bezaubernde junge Frau kennengelernt und mich zum ersten Mal mit dem Gedanken beschäftigt, dass es an der Zeit war, eine Familie zu gründen.
Erst die Gespräche mit meinen verschiedenen Mitinsassen haben mir langsam die Augen geöffnet, warum ich hier gelandet sein könnte. Ich habe niemals an so etwas gedacht, und ich weiss noch genau, wie emotional ich reagiert hatte, als man mich zum ersten Mal mit dieser These konfrontierte.
Neid. Jawohl. Ganz einfach Neid.
Irgendjemand hatte mir meinen Erfolg wohl nicht gegönnt und bei den zuständigen Behörden gegen mich ausgesagt. Oder schlicht und ergreifend einen Bekannten beim Geheimdienst gehabt, der ihm einen kleinen Gefallen auf diese Weise getan hat. In dem Augenblick, da diese Botschaft mein Inneres erreicht hatte, brach auch meine Zuversicht, hier wieder herauszukommen, zusammen. Ich musste mich langsam, aber sicher damit abfinden, dass ich mit höchster Wahrscheinlichkeit diffamiert wurde und dass die Person, der ich das zu verdanken hatte, jetzt frohgemut da draussen in Freiheit umher spaziert. Es tat weh. Mehr noch als der Verlust einer möglichen Zukunft, die ich mir aufgebaut hätte. Die Vorstellung, seinen eigenen Verräter wohl niemals identifizieren zu können, liess meine Hoffnungen schwinden wie einen ätherischen Hauch in einer Windböe.
Ich versuchte, mir bei den zur Routine gewordenen Befragungen nichts anmerken zu lassen und mit gespielter Souveränität wie gewohnt zu reagieren. Das ging ein paar Wochen gut, doch dann kam plötzlich ein altbekannter Verhörleiter zurück, ich habe ihn gleich am Körpergeruch erkannt, er hatte mich in der Anfangsphase meiner Inhaftierung öfters und danach immer wieder mal befragt. Ihm konnte ich anscheinend nichts vorspielen. Seine Stimme, in der immer etwas bedrohlich Voluminöses mitklang, bekam bereits nach wenigen Fragen einen teilnahmslosen Unterton, ich konnte ihn genau heraushören, als ob mein Fall für ihn hiermit so etwas wie erledigt sei. Sie schlugen mich während der einstündigen Befragung (man bekommt in Haft ein eigenes spezifisches Zeitgefühl) kein einziges Mal, es war, als ob sie mich nun da hätten, wo sie mich haben wollten.
Ein letztes Mal keimte in mir die Hoffnung auf, sie würden mich doch freilassen, jetzt, da ich aus ihrer Sicht gebrochen dalag. Natürlich nur unter bestimmten Bedingungen, ich malte mir aus, wie sie mir erklärten, ich hätte das Land umgehend zu verlassen und dürfte unter keinen Umständen wieder zurückkommen; ich, der trotz allem eine unendlich tiefe Liebe für sein Heimatland in seinem Herzen trägt, erklärte mich bereits innerlich bereit, der Anforderung zu gewähren und diesen Preis für meine mögliche Freiheit in Kauf zu nehmen. Diesen Neuanfang war ich gewillt zu akzeptieren.
Doch die darauffolgenden Wochen und Monate bis zum heutigen Tag sollten mich auch dieser Perspektive berauben. Es war das letzte Verhör, dem sie mich unterzogen.
Seitdem friste ich mein Dasein abgeschieden in dieser Zelle. Mittlerweile immun gegen den Gestank. Sie haben mich vergessen, weil sie mich vergessen machen wollen. Sie lassen mich hier unten einfach verrotten.
Wie das Handtuch.
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