Ich versuche, mich ruhig zu verhalten. Immer wieder halte ich inne und lausche plötzlich auftretenden Geräuschen. Sie könnten von ihnen stammen. Der Gewölbetrakt ist sehr verwinkelt, im Notfall könnte ich durch die Seitentür knapp zehn Meter vor dem Kellerraum, in dem ich mich befinde, verschwinden. Könnte. Vorausgesetzt, sie kommen nicht gerade mit Nachtsichtgeräten um die Ecke. Dann ist es unweigerlich vorbei. Ein Blick auf die Uhr sagt mir, noch eine knappe Stunde, dann kommt mein Kontaktmann. Hoffentlich. Nichts ist vorhersehbar in diesen Zeiten. Ob ich nun hierbleibe oder an einen neuen sicheren Ort gebracht werde. Ich weiss nur, dass sie vor zwei Tagen den gesamten Häuserblock gegenüber auf den Kopf gestellt haben. Stunden haben sie damit verbracht, Stockwerk für Stockwerk abzusuchen. Nachdem sie keinen Erfolg dabei hatten, feuerten sie auf einmal wie wild in die Luft, zum einen aus Frust, zum anderen, um eventuell den einen oder anderen in der Umgebung aufzuschrecken und zu einer unüberlegten Reaktion zu zwingen.
Letzte Woche waren wir noch ein knappes Dutzend, die sich hier in den zerschossenen Ruinen verbargen, jeder an einem anderen Ort. Mittlerweile bin ich der Letzte, der hier noch ausharrt. Das Schlimmste ist die permanente Anspannung, die erzwungene Wachsamkeit. Was würde ich dafür geben, einmal durchschlafen zu können. Einmal nur, um wieder Energie zu tanken. Energie, die sie mir durch die Granateneinschläge rund um das Haus hier rauben. Das sind die Momente, in denen meine Wahrnehmung auf Höchsttouren läuft. In denen ich unterscheiden muss, welches Geräusch eine akute Bedrohung darstellt. Kann das irgendjemand da draussen nachvollziehen, der nicht in meiner Lage ist? Fakt ist, sie jagen mich, weil ich zur falschen Zeit am falschen Ort war.
Hätte ich mich damals umentschieden und wäre nicht durch den militärisch kontrollierten Teil gelaufen, könnte ich jetzt in Ruhe bei mir zuhause sitzen, mit Strom, fliessendem Wasser, frischem heissen Tee. Der Rest in der Thermoskanne vor mir ist mittlerweile kalt. Ich habe es einfach nicht glauben wollen. Aber dann habe ich es mit eigenen Augen gesehen. Der dicke dunkelrote Blutstrom auf dem Asphalt. Mit eigenen Ohren gehört. Die Schreie der Mutter, bevor eine weitere Gewehrkugel auch sie zum Verstummen brachte. Und dann der Moment, als der Schütze mich bemerkte. Ab dem Moment verschwimmt alles in meiner Erinnerung. Ich spüre mich nur noch um mein Leben rennen. Die Tasche mit meinem Laptop, meinem Geldbeutel, den Papieren, ich muss ihn wohl in dem Augenblick haben fallen lassen, als ich loslief. Erst am Abend, als ich ein leerstehendes Haus zum Schutz aufgesucht habe, realisierte ich den Verlust. Das war der Knackpunkt. Dadurch hatten sie meinen Namen, meine Adresse, alles. Von da an gab es keinen Weg mehr zurück, auch wenn ich bis dahin nie auffällig in Erscheinung getreten war. Politik ist bis heute nicht mein Ding, obwohl ich mich nun zwangsweise damit beschäftigen muss.
Nein, ich bin kein Revolutionär der ersten Stunde, und nein, ich stamme auch nicht aus den privilegierten Reihen. Höchstwahrscheinlich war das mein Glück, als ich am Tag nach dem Vorfall auf den Trupp Aufständischer stiess. Ich habe einfach nur erzählt, was vorgefallen ist und wie ich zu dem Ganzen stehe. Der Älteste von ihnen musterte mich eine ganze Weile prüfend, bevor ein Lächeln über sein Gesicht huschte und er seine Hand mit den Worten auf meine Schulter legte: „Tja, nun bist Du einer von uns.“ - „Ich bin aber nicht wirklich einer von euch,“ hörte ich mich sagen. „Dann sieh es mal anders herum: Du bist definitiv keiner mehr von der anderen Seite.“ Das saß. Des öfteren sträubte ich mich in den Anfangstagen immer wieder gegen diese Vorstellung, doch die Tatsachen, vor die ich gestellt wurde, widerlegten mich immer mehr. Anfangs die Berichte, mein Name würde da draussen unter den Soldaten kursieren als als Mitglied bewaffneter umstürzlerischer Einheiten; schliesslich die Fahrt in dem alten Kombi an meiner Wohnung vorbei, die eingeschlagenen Fensterscheiben liessen meine schlimmsten Befürchtungen wahr werden. Sie hatten bestimmt alles an Wertsachen eingesteckt und den Rest kurz und klein geschlagen, zerstört, in Stücke gerissen. Später wurde mir von einem anderen Revolutionär berichtet, er habe sich in den frühen Morgenstunden in meine Wohnräume geschlichen und eine unvorstellbare Verwüstung vorgefunden. Manchmal schliesse ich einfach die Augen und stelle mir vor, das alles sei nur ein furchtbar schlechter Albtraum und ich habe in Wirklichkeit meine Tasche immer noch bei mir und kann mich behutsam nach Hause schleichen.
Doch dann wird mir wieder bewusst, was ich gesehen habe. Was hatte die junge Familie bitte verbrochen, dass sie auf offener Strasse einfach abgeknallt wurde wie ein Rudel tollwütiger Hunde? Ich hätte mir ja noch erklären können, dass sie ihn erschiessen, weil er gerade im Begriff war, eine Waffe zu ziehen, als sie in ihm einen gesuchten Aufständischen erkannt hatten. Aber das Kind! Ohne mit der Wimper zu zucken aus ein paar Metern Entfernung! Und es waren Soldaten unserer Armee! Ich wollte es einfach nicht wahrhaben bis dahin. Die Berichterstattung der ausländischen Medien hatte ich immer mit Argwohn verfolgt, unsere nationale Einheit war mir ein zentrales Thema, das ich auch in Diskussionen mit meinen Freunden und Bekannten zu verfestigen versuchte. In meinem vorherigen Leben. Wie denken sie wohl über mich? Halten sie mich jetzt wirklich für einen gesuchten Terrorverdächtigen? Würden sie mich emotionslos an die Behörden ausliefern, wenn ich ihnen über den Weg liefe? Mit jedem neuen Tag muss ich mir leider vor Augen führen, dass dem wohl so sei.
Meine Gedanken schweifen zu meiner Familie, vor allem meiner Mutter. Als sie mir den Ausschnitt aus dem Staatsfernsehen präsentierten. In Tränen aufgelöst zeigten sie sie, kaum in der Lage, ein Wort hervorzubringen. Und dann der abfällige Kommentar des Sprechers, der ihr Wimmern mit den Worten interpretierte, ich sei von nun an nicht mehr ihr Sohn. Ein Kloss bildet sich in meinem Hals, jetzt, da ich wieder daran denke, und ich spüre, wie sich Tränenflüssigkeit in meinen Augen sammelt. Ich würde meine Mutter jetzt am liebsten umarmen, ganz fest an mich drücken, ihr sagen, dass das alles gar nicht wahr sei, nicht passiert ist. Dass alles so ist, wie es immer war. Doch das kann ich nicht. Ich hole tief Luft und konzentriere mich auf die Geräusche ausserhalb. Entfernter Donner, wahrscheinlich von Panzergranaten. Zwischendurch sporadisches Stakkato von Maschinengewehren. Keine Stimmen. Sofort bin ich wieder in der mir leider nur zu vertrauten Anspannung. Ein Schluck von dem kaltgewordenen Tee lässt mich wieder wacher werden. Ich darf jetzt auf keinen Fall einschlafen. Noch eine gute dreiviertel Stunde, bis ich Besuch bekomme, ich muß genau auf das vereinbarte Zeichen achten und meinerseits das Signal zur Bestätigung senden. Hoffentlich schaffen sie mich diese Nacht hier raus, am liebsten zu anderen Untergetauchten, ich brauche nach dieser Zeit alleine hier dringend andere Menschen um mich herum. Dass ich mich das jemals sagen höre, ringt mir sogar ein spürbares Lächeln ab.
Zeit meines Lebens war ich ein Einzelgängertyp, dessen Recht auf Individualität gegen jedweden Gruppenzwang immunisierte. Ich konnte es nie leiden, lediglich Teil von etwas zu sein. Und jetzt bin ich nicht nur dazu gezwungen, ich beginne mich sogar danach zu sehnen. Die Aufständischen, die jetzt zu meinen Brüdern und Schwestern geworden sind, waren ungewohnt tolerant, als sie mir verständlich machten, dass meine Gesinnung oder meine Beweggründe schlicht und ergreifend sekundär waren, solange ich nicht auf die Idee käme, sie, die Revolutionäre, an die Regimekräfte zu verraten. Wie denn auch? Letztere wollen mich schliesslich gar nicht mehr lebend in die Finger kriegen. Dank der gefälschten Beweise, anhand derer ich flugs zu einem Rädelsführer des Aufstands erklärt wurde. Und das alles nur, weil ich einen Bruchteil einer Sekunde zu lang in die Augen eines Scharfschützen gesehen habe. Natürlich habe ich sein ganzes Gesicht wahrgenommen, ja. Ich könnte ihn problemlos identifizieren. Dafür würden mir alleine die Augen reichen. So etwas vergisst man nicht.
Eine wuchtige Detonation lässt das Gebäude erzittern und den Putz von der Decke rieseln. Ich springe auf und reibe mir den Mörtelstaub aus den Haaren. Ein, zwei Minuten stehe ich reglos da, wie auf dem Sprung, falls ein weiterer Einschlag auf eine Bombardierung dieses Blocks deuten würde, bereit, erneut um mein Leben zu laufen. Doch es passiert nichts. Wahrscheinlich ein unfreiwilliger Treffer, hier steht ohnehin nichts mehr, das sich weiters zu zerschiessen lohnt. Ich nehme wieder auf der zerschlissenen Matratze Platz und stelle mir einen schönen, sonnigen Tag vor, an dem ich durch die Strassen meiner Stadt spaziere, mich in einem der unzähligen Cafés niederlasse und entspannt an einem Tee schlürfe, während ich die Passanten beobachte. Ob ich das jemals wieder erleben darf? Wann habe ich zuletzt Tageslicht genossen? Damals, in meinem vorherigen Leben, das nun unwiderruflich vorbei ist, weil das Regime, ja, mittlerweile ist es auch für mich das Regime und nicht mehr meine Regierung, weil dieses Regime, dem ich bis vor kurzem diese Art von Politik nicht oder nur bedingt zugetraut habe, wirklich das ist, wofür es die Aufständischen und die ausländischen Mächte halten, und das dieses Regime keine Zeugen duldet, Zeugen, wie ich es unfreiwillig geworden bin.
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