Die Kämpfe um Damaskus und vor allem Aleppo steigen auf ein Level, das an Homs vor sechs Monaten erinnert. Teilbefreite Zonen und Grenzkontrollposten im Norden des Landes. Die Territorialhoheit des Regimes schmilzt dahin wie ein Eisberg unter der Äquatorsonne.
Was auf die Revolutionäre und uns, ihre Unterstützer, wie ein Fortschritt Richtung Befreiung wirkt, weckt in der Phantasie der globalen politischen Entscheidungsträgerkaste und ihrer Entourage düstere Zukunftsszenarien, basierend auf den fast schon als klassisch zu bewertenden Stereotypen, die vom syrischen Regimezirkel gebetsmühlenartig verbreitet wird.
Als da wären:
Versuche, die Freie Syrische Armee zu kriminalisieren: seit der Gründung der FSA durch mutige Deserteure, die sich von der Regimearmee abgespalten haben, haben sich auch Zivilisten zu Einheiten der FSA erklärt. Aufgrund der undurchsichtigen Gesamtlage in einem Land, dessen Regime internationale Berichterstattung nicht zulässt und dem Umstand, dass mit der Befreiung einzelner Orte logischerweise Kampfhandlungen mit verbunden sind, ist es nicht auszuschliessen, dass es vereinzelt zu Taten kommt, die als Kriegsverbrechen eingestuft werden. Wir haben das ebenso in Libyen erlebt, als die Freiheitskämpfer mit Überreaktionen gegenüber der Gaddafi-Milizen konfrontiert wurden. Doch der Versuch der Diskreditierung schlägt in beiden Ländern gleichauf fehl: man kann die vereinzelten Fälle von Verstössen gegen Menschenrechte (so nennt das im Eigeninteresse das Regime und bietet diese Interpretation inbrünstig feil) nicht mit den exzessiven Gewaltakten des Assad-Clans vergleichen. Gewaltausbrüche, die jenseits aller humanen Schranken in geradezu archaischer Weise als Racheakte am eigenen Volk ausarten.
Die Verbreitung von Gerüchten, die FSA verfüge über enormen Waffennachschub: Assads bewaffnete Gegenspieler sind leicht ausgerüstet im Vergleich zum Munitionsdepot der Regimemilizen. Auch hier wieder Parallelen zu Libyen. Von den Freiheitskämpfern wurde berichtet, ihre Waffensysteme hätten eine Reichweite von fünf Meilen gehabt, die der Gaddafi-Milizionäre hingegen von bis zu fünfzig Meilen. Ähnlich müssen wir es uns in Syrien vorstellen. Auf der einen Seite Regimepanzer, die willkürlich wirkend aus sicherer Entfernung alles kurz und klein schiessen; auf der anderen die revolutionären Streitkräfte, denen teilweise nichts anderes übrig bleibt als Guerillataktiken anzuwenden. Auch wenn die Pro-Regime-Front immer wieder massiven Einfall bewaffneter fremdländischer Banden wahrgenommen haben will, die zur Unterstützung der als Terroristen eingestuften Zivilbevölkerung eingeschleust sein sollen: die Starke der Regimekräfte ist nach wie vor überproportional zu jener der bewaffneten Revolutionäre. Ausserdem kann man einen Panzer nicht mit einem Löffel attackieren beziehungsweise abwehren. Es sei denn, man hiesse McGyver.
Die Bezichtigung der FSA, sie sei Brutstätte für religiösen Extremismus/Jihadismus: die Verschwörungstheorie ist augenmerklich auf die Syrer innerhalb des Landes gerichtet, vor allem an die unentschlossene schweigende Mehrheit. Die Sektierertheorie hingegen findet ihre Adressaten ausserhalb Syriens, auf einem gleichbleibendem Niveau Panik unter den führenden Weltmächten verbreitend. ,Hisbollah!‘ schallt es im Westen, während der Osten mit ,Al Qaeda!‘ antwortet. Plötzlich ist sie wieder allgegenwärtig, die Terrorbedrohung. Doch im Falle der FSA glatte Themaverfehlung. Die ehrenwerten Verbände der FSA sind die Beschützer des syrischen Volkes. Vor wem sie das syrische Volk beschützen? Na, vor denen, die von Amts wegen für den Schutz des syrischen Volkes sorgen sollten .. dazu kommt noch dass es ein himmelweiter Unterschied ist, ob man Gott anruft, um Angst zu überwinden oder um Angst zu verbreiten.
Das Schüren von Ängsten vor Gewalt- und Vergeltungsakten unter den verschiedenen Religionen: die Sektierertheorie ist ausser im militärischen leider auch im zivilen Sektor anwendbar. Das Säen von Misstrauen unter Alawiten, Sunniten, Christen und anderen sowie der dreiste Versuch, dieses auch noch als naturgegeben der Weltöffentlichkeit verkaufen zu wollen, ist ein weiterer schmutziger kleiner Trick des Regimes, um die Oberhand zu behalten. Einem schleichenden Gift gleich werden diese Mythen propagiert; zu ihrer eigenen Rechtfertigung mit inszenierten Bombenanschlägen untermauert. Alles nur, um uns eine Botschaft zukommen zu lassen, die wir seit Saleh & Co. bereits kennen: ,Entweder wir oder Chaos.‘ Welches Chaos bitte? Das übliche Chaos, das während einer vom Volk geführten Restrukturierung der politischen Verhältnisse ihrer Nation eintritt? Oder das bewusst verursachte Chaos, mit dem das Regime unter tatkräftiger Hilfe seiner beiden Flügelpositionen, den Geheimdiensten rund um den mukhabarat und den Söldnern der shabiha, das Land systematisch überzieht?
Die Behauptung, die Aktivisten und Demonstranten im eigenen Lande seien von fremden Mächten gesteuert: eine nahezu liebliche kleine Lüge. Sämtliche Demonstrationen seit Ausbruch des Aufstands drücken als gemeinsamen Nenner den Willen aus, das Regime loszuwerden. Und nicht, um Werbung zu machen für westliche Demokratien. Analysiert man die Proteste, wird man feststellen, dass nicht nur massive Kritik geübt wird am Festhalten Russlands und Chinas am Assad‘schen Apparat. Die zögernde Haltung der Vereinten Nationen, des Westens sowie der arabischen Nachbarn wird durchaus von der syrischen Bevölkerung wahrgenommen und hinterlässt das ernüchternde Gefühl, auf sich alleine gestellt zu sein. Statt effektiver Massnahmen, dem sinnentleerten Morden der Regimesöldner Einhalt zu gebieten, werden Schicht um Schicht Stellvertreterkriege konstruiert, die die eigentliche Intention des Aufstands gegen Assad verdecken - die Wiedererlangung von Freiheit und Würde.
Offiziell ,lediglich Jagd auf Terroristen machen‘: in allen Altersklassen wohlgemerkt. Nicht ein einziges Wort der Regimekräfte darüber, dass man auf der Terroristenjagd bewusst zivile Opfer in Kauf nimmt. Stattdessen wird die brutale Hatz kommentarlos weiter geführt. Es ist ihnen wirklich egal. Ob die Opfer ihrer bestialischen Angriffe nun Fussball in einer verwüsteten Seitengasse gespielt haben oder in den Armen ihrer Mütter lagen, als die tödlichen Geschosse ihre Körper durchschlugen. Ein Terrorist weniger. Das ist die offizielle Regimesprache. Kofi Annan dürfte noch Jahre brauchen, um zu begreifen, dass sein Sechs-Punkte-Plan von Beginn an eine Totgeburt war.
Wenn zu all dem noch die mittlerweile desaströse Regime-PR dazugerechnet wird - Gaddafis Kommunikationskanäle waren in der Endphase ähnlich dilettantisch zu Werke, das imaginäre Bild vom Bruder Führer bei der Stange zu halten - und die kontinuierlich steigende Zahl derer, die sich offiziell vom Regime lossagen, dann sieht es für das Regime bezüglich seiner Chancen und Möglichkeiten mit einem Wort ausgedrückt bescheiden aus.
Entweder zu bleiben, weiters Terror zu verbreiten und einem sicheren gewaltsamen Ende entgegen zu sehen. Oder in die Maschine nach Russland einzusteigen.
Das aktuelle Lieblingsstichwort der Zweifler dürfte Chemiewaffen sein. Diese jedoch waren schon vor dem Ausbruch der Revolution in den Reihen der Regimearmee gebunkert. Eine Gefahr, der man sich tendenziell mit dem Beginn der Überwindung des diktatorischen Systems hätte bewusst sein sollen. Und man kann mit hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass den leiderprobten Syrern, die seit einem halben Jahrhundert sämtlichen Formen von Demütigung und Willkür ausgesetzt sind, dies nicht entgangen ist. Lediglich die unkende Front der Ängsteschürer beschwört in diesen Tagen die unheilbringende Gefahr des Einsatzes chemischer Waffen - als ob sie erst vor ein paar Wochen aufgetaucht wären. Natürlich würde das Regime so weit gehen und besagte Kampfstoffe gegen das Volk einsetzen - wenn sie es denn einigermassen sicher von den eigenen Reihen isoliert hätten, um nicht selber auch noch Opfer der eigenen Angriffe zu werden. Zuzutrauen wäre es ihnen.
Nein, Russland und China sind bei weiterem nicht die einzigen bösen Buben, die Assad bei der Stange halten. Genauso verantwortlich für sein entfesseltes Wüten sind die Westmächte wie auch die Arabische Liga wie eigentlich alle, die bei der Vorstellung eines Assad-freien Syriens ein schwarzes Loch vor den Augen haben.
Der gerechtfertigte Anspruch auf einen Systemwechsel wird konstant von Ängsten, Bedenken, Zweifeln überschattet. Es ist eben auch eine Konfrontation auf rhetorischer Ebene, und einer gesäten Angst müssen manchmal dutzende korrigierende Erklärungen folgen, um die Verunreinigung der Wahrnehmung auszupolieren.
Das bezieht sich vor allem auf die Königsdisziplin der Regimetricks, sich grösser und gefährlicher zu machen, als man ist. Zur Erinnerung: Der Baath-Kult erlaubt einer verlesenen elitären Minorität, ihren aristokratisch anmutenden Faschismus - den man auch ohne weiteres als sozialistischen Nationalismus titulieren kann - unter rücksichtsloser Anwendung von physischer und psychischer Tortur sowie dem erweiterten Prinzip des Teilens und Herrschens (von den eigens geschaffenen Sicherheitsapparaten bis zu ethnischen und religiösen Gruppierungen) zu etablieren. Um ihren Machtanspruch durchzusetzen, ist ihnen jedes Mittel recht, sei es noch so würdelos: das Anheuern von gnadenlosen Mördern, die abartige Massaker an ganzen Familien begehen; das Anordnen von tödlich verlaufender Folter während des Verhörs verschleppter Minderjähriger; Das systematische Postieren von Scharfschützen auf den Dächern, bevorzugt an Strassenkreuzungen; das Bombardieren lassen von kompletten Häuserblocks, von denen nur noch ein in sich zusammengefallener Trümmerhaufen liegen bleibt.
Einem Amoklauf gleich.
Da die Weltgemeinschaft nach annähernd anderthalb Jahren nicht in der Lage ist, der syrischen Zivilbevölkerung ausreichend Schutz zu garantieren, ist die FSA in ihre Pflicht als Verteidiger des syrischen Volkes genommen, zumindest temporär diverse Pufferzonen zu schaffen, die den bedrängten Bewohnern eine Atempause und die Möglichkeit der Versorgung zu gewährleisten.
Jetzt, da die FSA in der Lage ist, Grenzposten zu halten, ist es an der höchsten Zeit, humanitäre Hilfsgüter und medizinisches Gerät in das Not leidende Land zu bringen, im Idealfall gleich mit den Mitarbeitern der jeweiligen Organisationen. Doch stattdessen wird berichtet, dass sich das Rote Kreuz wegen der steigenden Gewalt aus Aleppo zurückzieht. Eine Bewegung in genau die verkehrte Richtung.
Die Wunden der Passivität, die die Syrer während der vergangenen anderthalb Jahre von allen Seiten her zu spüren bekommen haben, werden Zeit brauchen, um auszuheilen. In etwa die Zeit, die die Wunden zwischen Leidtragenden und Mitläufern des Regimes benötigen, um bewältigt zu werden.
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