Friday, March 23, 2012

Geiseln, Gaffer, Geiselnehmer

Viele Fachausdrücke kursieren derzeit, fabriziert vom breiten Spektrum der Beteiligten und Aussenstehenden, von den Aktivisten in den syrischen Strassen bis zu den selbsterkorenen politischen Experten: da hört man auf der einen Seite vom ,Zeitlupengenozid‘, während die anderen ihre mangelnde Kreativität hinter dem Sammelbegriff ,Bürgerkrieg‘ beziehungsweise ,bürgerkriegsähnliche Zustande‘ verbergen. Und der sich nicht in der Materie befindende Leser/Zuseher/Zuhörer wird eher verwirrt denn aufgeklärt durch die Flut an kursierenden Termini.

Man kann die existierenden Beschreibungen getrost vergessen. Es reicht, sich die grösste Geiselnahme in der Menschheitsgeschichte vorzustellen. Faktisch hält der Assad-Clan mehr als zwanzig Millionen Menschen in Geiselhaft. Praktisch von Geburt an haben die Syrer die Wahl, das Land so schnell wie möglich und dann auch wohl für immer zu verlassen oder stillschweigend die Willkür der herrschenden Minderheit zu tolerieren, bestehend aus einer Handvoll Familien und ihrem abgerichteten Anhang, bereit, in blinder Loyalität Verbrechen gegen die Menschheit zu begehen.

Als Bürger eines Landes hat man eigentlich ausser seinen Pflichten bestimmte Grundrechte, in manchen politischen Systemen mehr als in anderen, man kann seine Stimme in der Öffentlichkeit erheben, vom Demonstrationsrecht Gebrauch machen oder sich mit Gleichgesinnten zusammenschliessen. (Auf die möglichen Konsequenzen derartiger Aktionen möchte ich im einzelnen nicht näher eingehen, da sie wie bereits erwähnt von Land zu Land variieren.) Die Syrer haben nicht einmal die Möglichkeit, diese Grundrechte wahrzunehmen, ohne Verhaftung, Folter oder gar ihren sicheren Tod zu riskieren. Verschleppung, Erpressung, kollektive Bestrafung - der Katalog der regimeeigenen Grausamkeiten ist äusserst reichhaltig. Selbst nach geglückter Emigration ist man alles andere als auf der sicheren Seite. Der lange Arm des Regimes verfolgt seine Untertanen mithilfe der Botschaften und Konsulate im Falle zu laut geäusserter Kritik am heimischen autoritären Staatswesen. Allzu oft habe ich in den letzten Monaten den Satz vernommen: „Ich habe keine Angst um mich, ich habe Angst um meine Familienangehörigen, die noch in Syrien sind.“ Die Drohungen gegen die syrischen Emigranten sind nicht gerade subtil, im Gegenteil, meist sind sie recht direkt. Vergangene Woche habe ich einen jungen Deutsch-Syrer kennengelernt, Anfang zwanzig, auf den ersten Blick ein normaler junger Mann, wie man ihn in unseren Städten in den Clubs und Cafés jederzeit begegnet. Er erzählte mir, dass er ein paar Wochen in einem der berüchtigten Foltergefängnisse einsaß. Allein der Anblick seiner über die Arme verteilten Narben jagte mir Gänsehaut ein. Sein einziges ,Verbrechen‘ bestand darin, nicht konform mit der mörderischen Politik Assads zu gehen. Er war und ist kein Mitglied jener ominösen ,bewaffneten Banden‘, die Bashar bei jeder Gelegenheit erwähnt. Er war wie alle anderen Demonstranten unbewaffnet. Er ist lediglich eine der über zwanzig Millionen Geiseln, die um Hilfe rufen. Und er hat im Gegensatz zu vielen anderen Riesenglück, der Foltermaschinerie lebend entkommen zu sein und nun einigermassen Sicherheit hier in Europa zu geniessen. Einigermassen, da das Damoklesschwert der hier lebenden Assad-Anhänger über allen Köpfen schwebt.

Während die Worte des russischen Regimes noch in unseren Köpfen nachhallen - „Keine Einmischung bitte!“ - sollten wir uns alle dennoch fragen, ob jener dubiose Doppelstandard, der hier aufrechterhalten wird, weiters tolerierbar ist. Unter dem schützenden Dach der diplomatischen Immunität missachten die Shabiha (die ,Geister‘, ein spezieller Begriff für regimetreue und mehr oder minder gnadenlos vorgehende Syrer), egal, ob Botschafter selbst, deren Personal oder Hintermänner, nicht nur die Regeln und Gesetze anderer Länder, sie verstossen bewusst und willentlich dagegen.

Was die Weltgemeinschaft seit nunmehr einem Jahr zu sehen bekommt, ist der sowohl mutige als auch verzweifelte Versuch, die Geiselnehmer zu überwältigen - ausgehend von den Geiseln selbst, nicht erwartungsgemäß von einer gut ausgebildeten Spezialeinheit in Zusammenarbeit mit geschickt agierenden und psychologisch geschulten Verhandlungsführern. Es handelt sich hierbei um alles andere als einen typischen Hollywoodfilm mit vorgefertigtem Happy End. Es ist buchstäblich blutige Realität mit offenem Ausgang (obwohl der Widerstand gegen das Regime weiter wächst). Und anstelle der tapferen und entschlossenen Zivilbevölkerung in unterstützender Form zu Hilfe zu eilen, entfacht die globale Elite einen Stellvertreterkrieg bis in die höchsten Gremien der Vereinten Nationen, um sich der Verantwortung zu entziehen, aktiv für diejenigen zu werden, die im Moment am nötigsten Hilfe brauchen.

Eine Tragödie? Eine Schmach? Ein Desaster? Irgendwie alles zusammen. Allein der eiserne ungebrochene Wille der Syrer, Freiheit und Würde wiederzuerlangen und die Bereitschaft, dafür hohe Opfer zu erbringen, um den nachfolgenden Generationen ein besseres Leben zu ermöglichen, verspricht Erfolg auf den schleichenden, jedoch absehbaren Niedergang des Regimes. In den täglichen Nachrichten werden wir lediglich mit den nackten Zahlen ermordeter Zivilisten konfrontiert. Doch hinter jedem einzelnen Märtyrer steht ein menschliches Leben, das gewaltsam abrupt beendet wurde und eine trauernde Familie und geschockte Freunde und Bekannte hinterlässt.

Wenn die Revolution erfolgreich zu Ende geführt sein wird, brauchen die Mächtigen der Welt - egal aus welcher Ecke sie kommen - nicht zu glauben, dass sie in Dankbarkeit mit offenen Armen empfangen werden. Die freien Syrer werden sich genau überlegen, mit wem sie in Zukunft welche Kontakte pflegen nach allem, was sie allein bis heute allein ertragen mussten, während der Rest der globalen Elite gemütlich auf der sicheren Couch in den hinteren Reihen Platz genommen hat und neunmalklug kommentierend beobachtet, zusieht, wegschaut ..


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